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Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)

Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)

Titel: Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Szameit
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allen Empfindungen geblieben. Bin ich doch schon süchtig? fragt sich Hendrikje, aber echte Sorge will sich nicht einstellen. Alle sagen, die Sucht sei ungefährlich, führe lediglich zu geringfügigen Störungen im Psychogramm. “Derdegiderje!”
    Hendrikje schrickt aus ihren Gedanken. Vor ihr steht ein junger Mann. Sportlich gebaut, gut aussehend – wie alle Männer, bei denen eine genetische Optimierung möglich ist. Phänotyp römisch zwei, arabisch unterlegt, registriert Hendrikje. Sie selbst ist skandinavisch acht: klein und zierlich, meerblaue Augen unter auffällig geschwungenen Brauen, auf deren grünlichen Schimmer, der erst soviel Aufregung unter den Optimatoren hervorrief, sie inzwischen nicht wenig stolz ist.
    Er sollte weniger Samtbraun für den Nasenrücken nehmen, denkt sie und mustert das hagere Gesicht, und Indigo statt Oliv würde die Unterlippe sinnlicher erscheinen lassen. Die rubingefaßte Perle im rechten Nasenflügel aber hat er mit viel Geschmack ausgewählt, obwohl man seit vier Tagen eigentlich Karneol trägt und in den Morgenstunden besser die linke Gesichtshälfte betont.
    “Derdegiderje!” Der Mann hält ihr ein geöffnetes Etui entgegen.
    Sie lächelt ihn dankbar an. Ihr Lächeln wirkt echt, das haben ihr schon viele Leute bescheinigt, und auch der Mann vor ihr macht ein zufriedenes Gesicht. Ein flüchtiger Blick auf den gefleckten Overall sagt Hendrikje, daß er wohl zwanzig bis dreißig Stück am Tag braucht.
    “Derdegiderje…” Die Grußformel geht ihr noch nicht flüssig über die Lippen, und Hendrikje schielt zum Urbanidum Maximum hinüber, wo die Tageslosung strahlt. Beinahe hätte sie sich unsterblich blamiert und mit “Heschwidam!” geantwortet, aber die Losung “Heute schaffen wir das Morgen” galt gestern, und über die Vorderseite des Urbanidum Maximum flimmert es wie eine schillernde Bauchbinde: “Der Reichtum der Gesellschaft ist der Reichtum jedes einzelnen.”
    Mit einer ruckartigen Bewegung drückt er ihr das Etui in die Hand. “Siekönnensieallebehalten. Ichhabenochgenug.” Der Mann spricht so hastig, daß sie seine Worte kaum versteht. Gerade setzt sie zu einer freundlichen Entgegnung an, da durchzuckt es sie wie ein Stromstoß. Ein Mungo! Vor ihr steht ein Mungo!
    Am Morgen erst hat Ergar sie gleich nach dem »gemeinsamen Sprechen der Tageslosung, wobei er gelangweilt die Augen verdrehte, darauf hingewiesen, daß in Vorbereitung irgendeines Ereignisses, an das sie sich nicht mehr erinnert, alle Bürger aufgerufen seien, noch intensiver – tatkräftig, wie er es nannte – an der Bekämpfung dieser rätselhaften Krankheit mitzuwirken. Jetzt aber nimmt sie das erstemal in ihrem Leben einen dieser bemitleidenswerten Kranken bewußt wahr – er sieht doch ganz normal aus.
    Der Schreck vergeht schnell wieder. Unauffällig sieht sich Hendrikje um, dabei steckt sie eine Qualle in den Mund und versucht, unter Aufbietung eines erstaunlich hohen Maßes an Geistesgegenwart, ein unbekümmertes Gesicht zur Schau zu tragen. Sie saugt so heftig, daß ihr der Gaumen schmerzt.
    Die anderen Leute haben anscheinend nichts gemerkt. Sie stehen in einer langen Schlange vor dem Haltepunkt der Amigos und warten geduldig darauf, daß sie eins dieser unablässig anrollenden und wieder abfahrenden Fahrzeuge bekommen, die beinahe geräuschlos auf großen Ballonreifen durch das ameisenhafte Verkehrsgewimmel der Urbaniden flitzen.
    Die achtundsiebzigste, oberste Etage des Reganta-Urbanidums ist vollständig verglast, die Wondermarck-Magistrale zieht sich schnurgerade an der dem Zentrum von Amorix zugewandten Vorderfront entlang, und selbst mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von zweihundert Kilometern je Stunde benötigt ein Amigo noch vier Minuten, um von einem Ende zum anderen dieses von Menschen erschaffenen Bienenstocks zu gelangen.
    Hendrikje befindet sich etwa dort, wo die Magistrale von der Gonddiagonale und der Zercksdiagonale gekreuzt wird, die mit der ringförmigen Darkzyklinale die wichtigsten Verkehrsadern des Urbanidums bilden. Sie hat heute einen kleinen Umweg genommen, statt direkt in das Zentrum für Sonnenforschung zu fahren, eine ihrer Arbeitsstellen. In der Morgensendung des Freiwilligen Informativen Pflichtprogramms ist nämlich bekanntgegeben worden, daß aus Anlaß dieses Jahrestages, dessen Bedeutung ihr einfach nicht einfallen will – oder ging es um eine Tagung des Rates für Koordination oder um irgendeine Konferenz? –, der Kupatpunkt, in dem ihre
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