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Dornröschengift

Dornröschengift

Titel: Dornröschengift
Autoren: Krystyna Kuhn
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Taschen. Mann! Es war bereits nach acht! Pa, wo bleibst du denn? Hätte ich das Fahrrad genommen, könnte ich längst zu Hause sein. Aber seit Mikes Verschwinden bestand meine Mutter da rauf, dass ich am Abend nicht mehr alleine unterwegs war. Dabei machte es keinen Unterschied, ob ich in der Dunkelheit einsam an der Straße stand oder mit dem Fahrrad nach Hause fuhr.
    Ich seufzte erleichtert, als ich glaubte, ein Auto zu hören. Endlich! Der Wagen näherte sich. Ich bildete mir ein, dass er langsamer wurde. Andererseits – ich konnte kaum etwas erkennen, da das grelle Licht der Scheinwerfer mich blendete. Mist, das war nicht mein Vater. Der Wagen fuhr vorbei, Wasser spritzte hoch und in der nächs ten Sekunde verschwand der silbergraue BMW im Nebel. Wieder seufzte ich, zog die Hände hervor, hauchte sie erneut an. Dann begann ich von einem Fuß auf den anderen zu hüp fen, damit mir warm wurde. Und wenn mein Vater mich ver gessen hatte? Sollte ich dann in der Dunkelheit nach Hause laufen? Erneut wurde ich von hellen Scheinwerfern geblendet. Der Neun-Uhr-Bus. Er fuhr an mir vorbei, direkt durch die riesige Pfütze am Bürgersteig. Wieder spritzte Wasser hoch, schlug mir diesmal mitten ins Gesicht. Für einige Sekunden konnte ich nichts erkennen, außerdem war ich nun von oben bis unten durchnässt. »Verdammt, verdammt, verdammt! Du Idiot!«, schrie ich dem Bus hinterher und in dieser Sekunde erlebte ich so etwas wie eine Begegnung der dritten Art. Denn ich bemerkte, wie mich hinter der verdreckten Fensterscheibe ein verschwommenes Gesicht anstarrte. Dann entfernte sich der Bus wie eine be leuchtete Raumkapsel in der Dunkelheit und war kurz darauf verschwunden. Doch ich starrte ihm immer noch hinterher, die Angst kreiste wie eine blinkende Leuchtreklame in meinem Kopf. Das Gesicht! Es hatte wie Mike ausgesehen! Ein Gespenst? Oder erinnerte mich lediglich die Fellmütze an ihn? Mike hatte sie übers Internet gekauft, ein scheußliches Ding,
    von dem Mam immer ärgerlich behauptet hatte, es brächte nu r Motten ins Haus . »Aber sie hält warm«, hatte Mike entgegnet . »Du siehst aus wie ein Russe! « »Also cool! « Ich konnte mich noch genau erinnern, wie Mam wütend gewor den war. »Du weißt doch, dass es die Russen waren, die Papa s Familie das Haus nach dem Krieg weggenommen haben! « »Bestimmt nicht der, dem diese Mütze gehörte. Da steht näm lich drin: ›Made in China‹! « Mike war unglaublich. Er konnte meine Mutter immer zum La chen bringen. Nie hatte ich eine wirkliche Auseinandersetzung , einen Streit zwischen den beiden erlebt. Bis zu dem einen Ta g im März vor einem Jahr. Es war kurz vor den Abiturprüfunge n gewesen. Mike war zu dieser Zeit kaum noch in der Schule, d a er sich auf die Prüfungen vorbereitete. Als ich eines Tages nac h Hause kam, hörte ich beide schreien . Mikes letzten Satz hatte ich bis heute noch im Ohr . »Es gibt keine Möglichkeit, es wiedergutzumachen. « Ich hatte den Grund für diesen Streit nie erfahren . »Du musst nicht alles wissen, Princess«, hatte Mike erklärt, al s ich ihn danach fragte . Wenig später hatte er sich entschieden, nach dem Abitur nac h Australien zu gehen, und ich war das Gefühl nicht losgeworden , dass dieser Streit der Auslöser dafür gewesen war .
    Der Bus war längst verschwunden, aber mein Herz raste noc h immer und die verrücktesten Ideen gingen mir durch den Kopf . Hatte Hendrik nicht oft von den Wiedergängern erzählt? Dies e Gruselgeschichten über Verstorbene, deren Körper in die Wel t der Lebenden zurückkehrten, um sich, wie Hendrik gerne flüs terte, für erlittenes Unrecht zu rächen .
    Ehrlich, für einen winzigen Moment glaubte ich daran . Diese Ähnlichkeit! Diese Vertrautheit ! Was, wenn Mike tatsächlich zurückgekommen war ? Als Toter ? Weil er sich an Mam rächen wollte ? Wofür denn ? Ich schüttelte den Kopf. Jetzt spinnst du ja total, Sofie! Wieder gänger? Gespensterrache? Ein Geräusch riss mich aus meine n Gedanken. Gott sei Dank! Das war das vertraute Brummen un seres Landrovers. Gleich darauf kam der Wagen neben mir zu m Stehen . Ich öffnete die Tür und ließ mich in den Sitz fallen: »Endlich ! Hast du mich völlig vergessen? « »Entschuldige, ein dringender Notfall«, hörte ich die müd e Stimme meines Vaters. Ich warf ihm einen Blick zu. Erschöpf t starrte er auf die Straße. »Und bei dem Nebel kann man nich t schneller als fünfzig fahren. Hoffentlich passiert nichts dies e Nacht. Ich muss unbedingt mal
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