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Dornröschengift

Dornröschengift

Titel: Dornröschengift
Autoren: Krystyna Kuhn
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aufgebrochen, von dem er nicht wieder zurückgekommen war. Offenbar war er ertrunken, auch wenn man seine Leiche nie gefunden hatte. Das war vor drei Monaten gewesen, genauer gesagt am 20. Ja nuar. Seitdem lebten wir wie in einer Schattenwelt. Pa und ich schli chen uns im Morgengrauen aus dem Haus und kehrten so spät wie möglich dorthin zurück, wo meine Mutter sich weigerte, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Mike würde nicht wieder kommen. Doch nicht einmal als die Anrufe der Polizei seltener und die In formationen immer spärlicher wurden, bis sie schließlich ganz ausblieben, gab Mam die Hoffnung auf. Hendrik, unser Gärtner, war der Einzige, der es aussprach: »De Dod steiht achter de Dör.« Der Tod steht vor der Tür. Immer wenn er diesen Satz vor sich hin murmelte, überlief es mich kalt. Doch Mam schüttelte nur den Kopf. Solange Mike nicht gefun den sei, meinte sie, gäbe es immer noch eine Chance.
    Als ich an diesem Tag Ende April von der Schule nach Hause zurückkehrte, lag das Gutshaus eingehüllt in einem grauen, undurchsichtigen Wolkenfeld. Viele Leute beneideten uns um das prachtvolle, alte Gebäude mit dem aufwendigen Stuck an der Fassade. Jamaica zum Beispiel, die sich mit ihrer Mutter zwei winzige Zimmer über dem kleinen Lebensmittelladen im Dorf teilen musste. Man nannte uns sogar: die vom Schloss. Ehrlich, eine Zeit lang habe ich gar nicht kapiert, dass die uns meinten. Ich schob das Fahrrad in das Nebengebäude aus rotem Klinker, das meine Eltern zu einer geräumigen Garage hatten umbauen lassen. Dort stellte ich es neben Mikes uralten grünen VW-Käfer ab, den er zum 18. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Das Nebengebäude war durch die ehemalige Waschküche mit dem Haupthaus verbunden, sodass ich von hier aus direkt in die Diele gelangen konnte. Dort warf ich Mantel und Schultasche achtlos auf die alte Truhe, die noch von meinen Urgroßeltern stammte. Ein wurmstichiges Ding, von dem mein Vater sich nicht trennen wollte. »Mam«, rief ich laut. Keine Antwort. Ich öffnete die Küchentür. Nicht, dass ich erwartete, sie hier zu finden, denn seit der Nachricht von Mikes Verschwinden verbrachte sie die meiste Zeit schlafend im Bett und ich schmierte mir nach der Schule einfach ein Butterbrot. Doch heute brodelte es auf dem Herd und es roch verheißungsvoll. Neugierig hob ich den Deckel – Tomatensoße! Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Immerhin würde es ein warmes Mittagessen geben. »Mam?«, rief ich erneut, und da ich keine Antwort erhielt, rannte ich die knarrenden Holzstufen nach oben in den ersten Stock. Wahrscheinlich hatte sie eines der Beruhigungsmittel eingenommen, die ihr mein Vater verschrieben hatte. Leise öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Ein betäubender Geruch nach Lavendel und Schlaf hing im Raum. Die Betten waren gemacht, es lagen keine Kleider auf dem Fußboden. Mam war also tatsächlich aufgestanden. War sie vielleicht im Garten? Sie hatte ihre Rosen die letzten Monate völlig vernachlässigt. Ich verließ das Schlafzimmer, um draußen nachzusehen, aber als ich an Mikes Zimmer vorbeikam, hörte ich ein Geräusch. Ich glaube nicht, dass seit Toms Anruf vor drei Monaten jemand von uns den Raum betreten hatte. Vielleicht war es daher auch mehr eine Ahnung, jedenfalls drückte ich den Türöffner nach unten. Das Zimmer war noch so, wie Mike es verlassen hatte. Nichts hatte sich verändert. Die Rollos halb nach unten gezogen, erkannte ich die Metallregale an den Wänden, in denen er seine CD-Sammlung und stapelweise Bücher aufbewahrte. Auf dem Schreibtischstuhl lagen ein schwarzes T-Shirt und eine seiner Baseballmützen. Darunter schauten graue Turnschuhe hervor, so, als hätte Mike sie gerade abgestreift und würde gleich ins Zimmer gerannt kommen, um sich auf seinem Bett in einen dieser Science-Fiction-Romane zu vertiefen, die er abgöttisch liebte. Der Schaukelstuhl vor dem Fenster bewegte sich langsam hin und her. Ich erkannte meine Mutter, die im Nachthemd im Halbdunkel saß, eines von Mikes Sweatshirts in der Hand. »Mam?«, fragte ich erschrocken. Sie hob den Kopf und blickte mich traurig an. Ihre blonden Haare hingen ungekämmt ins Gesicht, sie war blass und hatte wieder geweint. »Sofie! Ist die Schule schon vorbei?« Vorsichtig trat ich näher. »Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Du solltest dich besser hinlegen. Komm, ich bringe dich ins Bett.«
    »Nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich räume auf. « »Warum ausgerechnet
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