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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss
Autoren: Bettina Belitz
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Ich fiel auf seine starre Brust und streichelte seine Arme und seine Wangen, küsste seinen Hals, seine geschlossenen Lider, ich wollte ihn nicht gehen lassen, obwohl ich langsam zu begreifen begann, was er mir gesagt hatte. Es erklärte alles. Alles. Es erklärte, warum ich mich immer so verstanden bei ihm gefühlt hatte, warum er nicht auf seine eigenen Bedürfnisse achtete, wenn wir miteinander schliefen, ja, es hatte ihm genügt, mich anzusehen, sich auf mich einzulassen, um darin eintauchen zu können, was mich bewegte … Es erklärte, warum er sein Gesicht verloren hatte, als ich mich Angelo zugewendet hatte und ihn vergaß. Ich hatte ihn nicht mehr angeblickt, nichts mehr für ihn empfunden.
    Aber es machte mir nichts aus, das zu wissen. Es erzürnte mich nicht, brachte mich nicht einmal aus der Fassung. Durch ihn waren meine überschäumenden Gefühle wenigstens für etwas gut gewesen. Ich hatte sie teilen können. Er hatte mich damit entlastet. Was gab es Schöneres, als sie zu teilen?
    Und außerdem irrte er sich. Colin irrte sich, wie nur ein Mensch sich irren konnte. Wenn er nichts gefühlt hätte, hätte ich ihn niemals töten können.
    Ich wusste nicht, ob er mich noch wahrnehmen konnte, denn sein Körper lag leblos unter mir und sein Gesicht verriet keine Regung mehr, obwohl es mir beseelter erschien als je zuvor. Ja, es leuchtete … Doch vielleicht gab es ein Zwischenreich, in dem ich ihn erreichen konnte, für wenige Minuten, das Reich, in dem auch mein Vater während seines Todes von Morpheus umfangen worden war und seine Gefühle mit ihm geteilt hatte. Ich musste es versuchen, er musste wissen, was ich ihm zu sagen hatte. Denn er irrte so sehr.
    »Colin, du bist kein Niemand. Du hast Charakter! Du hast sogar mehr Charakter als die meisten anderen Männer, denen ich bisher begegnet bin. Du hast Entscheidungen getroffen, wichtige Entscheidungen. Vor allem hast du gegen dein Schicksal aufbegehrt, ungeachtet dessen, dass es dich unentwegt Kraft gekostet hat und du immer wieder fliehen musstest – das zeugt von Charakter! Du hast ein Pferd an deine Seite geholt, obwohl es Wesen wie dich eigentlich scheut, und es vertraut dir. Du hast Humor, ich liebe deinen Humor! Jemand ohne Charakter hat keinen Humor oder klaut ihn sich, aber deiner ist einzigartig. Du hast immer wieder Arbeit gesucht und angenommen, du hast dir ein Zuhause geschaffen, selbst in der Einöde, du hast an unserem Leben teilgehabt, so gut es ging, du hast Kampfsport betrieben, um meditieren zu können, damit du dir eigene Träume erschaffen konntest … Colin, wir sind nicht nur das, was wir können, wir sind auch das, was wir tun und entscheiden! Das macht uns aus! Ein Meer voller Gefühle nützt niemandem, wenn ihnen keine Taten folgen. Du bist jemand, der handelt, und du wirst geliebt … Ich liebe dich, Tillmann liebt dich, er hat mitgeholfen, dich zu töten, weil er dich liebt und bewundert, er hat die Filmaufnahmen erstellt und geschnitten, er bringt gerade Louis zurück, damit er sich von dir verabschieden kann, Louis wird es gut bei ihm haben … Morpheus achtet dich, Gianna mag dich. Und wir alle wissen, warum wir das tun. Wir irren uns nicht. Nur du irrst dich, wenn du glaubst, du seist niemand. Du bist jemand. Du hast das Messer geführt und es hat dich getötet, weil sogar du dich liebst, du hast dich geliebt, weil ich dir Schmerzen zugefügt habe … Du hattest Mitleid mit dir selbst …«
    Ich konnte nicht weitersprechen, weil meine Tränen mir den Atem raubten. Nie würde ich erfahren, ob er meine Worte gehört oder gefühlt hatte. Aber wenigstens war er da, sein Körper war da und nicht unter meinen Händen entschwunden, wie ich es befürchtet hatte. Ich konnte ihn noch berühren. Obwohl er anders aussah als vorher, verletzlicher und friedvoller, war ihm das geblieben, was ich nie hatte missen wollen. Seine spitzen Ohren mit den vielen Ringen, das eigensinnige schwarze Haar – es bewegte sich nicht mehr, aber es glänzte und schimmerte immer noch –, seine helle Haut, sein geschwungener Mund, seine edlen, stolzen Züge. Und auch die eintätowierte Nummer an seinem Handgelenk.
    Doch als die Abendsonne ein letztes Mal durch das Fenster brach und auf seine Wange fiel, veränderte sie nichts. Seine Haare blieben dunkel, seine Haut unversehrt. Das Licht liebkoste ihn, ohne ihn zu vertreiben.
    Alleine ich sah es. Er selbst konnte es nicht mehr sehen.
    Nie wieder würde ich in seine schwarzen, glitzernden Augen blicken und
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