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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss
Autoren: Bettina Belitz
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mich dabei lieben. Aber er war jemand. Er war ein fühlendes Wesen. Er war es immer gewesen. Denn er hatte es versucht. Und in diesem Versuch lag mehr Inbrunst, als ein Mensch mit kalter Seele seinem Leben jemals schenken konnte.
    »Du bist Colin Jeremiah Blackburn. Du bist Colin Jeremiah Blackburn …«, flüsterte ich und schmiegte meine Hand in seine kühlen Finger, bevor ich mich dem ergab, was hatte kommen müssen und endlich seinen Lauf genommen hatte, um mich zu mir selbst zurückzubringen. Ich konnte ihn sehen.
    Ich konnte mich sehen.
    Endlich. Nicht unendlich.
     
    Jetzt schauen wir in einen Spiegel
    und sehen nur rätselhafte Umrisse,
     dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.
     
    Während die Sonne von uns wich und das Weiß des Baldachins über uns langsam in ein samtenes, nächtliches Grau überging, bestand ich nur noch aus Liebe, aus nichts anderem, nur aus Liebe, und hörte staunend und mit weit geöffneten Augen dabei zu, wie Colins Herz langsam und kraftvoll zu schlagen begann.

MENSCHHEITSDÄMMERUNG
    Er war nicht tot.
    Er schlief nur.

EPILOG
    Colins Herz schlägt immer noch. Manchmal liege ich nachts neben ihm, während er schläft, und schmiege mein Ohr an seine Brust, um sicherzugehen, dass es nicht damit aufhört. Dabei wird es diese Sicherheit nie geben, nicht bei ihm und auch bei keinem anderen Menschen.
    Seine Ohren sind spitz geblieben, seine Haut weiß und noch immer ist er eine Erscheinung, die die Blicke anderer auf sich zieht. Ein normales Leben wird ihm nicht glücken, dazu war er zu lange auf der Flucht, zu lange vogelfrei und allen Gesetzen entbunden. Aber wenn die anderen Menschen Abstand zu ihm suchen, dann nicht mehr aus Hass, Abscheu und Angst, sondern aus Achtung und Respekt, weil sie sich nicht mit einem solch finsteren Kerl anlegen wollen, und sie schauen verblüfft auf, sobald er lacht, weil sie es nicht von ihm erwarten.
    Colin hat sein Studium mit Streberzensuren beendet und arbeitet für das Wolfsprojekt in Sachsen. Manchmal besuche ich ihn dort und verbringe die Nacht mit ihm auf dem Hochsitz, was ich weitaus weniger prickelnd finde als er, aber immerhin gab es nie zuvor so viele Wolfssichtungen wie seit dem Tag, an dem er dort eingestellt wurde.
    Er braucht immer noch wenig Schlaf und ist selten krank. Seine erste Erkältung betrachtete er als Sensation; es fehlte nur noch, dass er ihr zu Ehren eine Party gab. Er benötigte eine Weile, bis er wusste, wann sich ein Niesen anbahnte und er rechtzeitig ein Taschentuch vor seine bebende Nase halten konnte, und ich muss gestehen, dass er während dieser Tage erheblich an erotischer Anziehungskraft einbüßte.
    Ich studiere inzwischen in Kiel Psychologie – haha, was sonst – und stehe in engem Kontakt mit Dr. Sand. (Meine Mutter übrigens auch. Noch mal haha.) Hin und wieder holen wir Morpheus zu uns und er setzt sich neben Marco, um sein Trauma zu heilen. Ich bin mir nicht darüber im Klaren, ob Morpheus wirklich etwas tut. Vielleicht sitzt er auch nur da und hört ihm zu, wie Colin es bei Tillmann getan hat. Ich weiß es nicht. Aber es scheint zu funktionieren.
    Gianna hat unter viel Geschrei und Gezeter ein kleines hässliches Mädchen zur Welt gebracht. Luisa hat die dunklen Haare ihrer Mutter und Pauls blaue Augen und ich schwöre, dass nicht das geringste Dämonische in ihrem Wesen zu finden ist. Außerdem pupst sie wie ein alter Mann.
    Tillmann macht gerade sein Abitur und will sich danach bei der Filmhochschule in München bewerben. Ich hoffe, dass es klappt. Er ist wie ich ruhelos geblieben. Wir alle sind ruhelos. Es gibt Abende, an denen wir schweigend zusammensitzen, Colin, Gianna, Tillmann, Paul und ich, und keiner von uns etwas sagen will, weil wir uns weder erinnern wollen noch vergessen.
    Paul hat sein Medizinstudium wieder aufgenommen, doch er tut sich schwer damit. Unzählige Ärzte haben ihn untersucht, um herauszufinden, woher seine lähmende Erschöpfung rührt. Sie finden nichts. Gianna hat es nicht leicht mit ihm, weil die Melancholie ihn immer wieder handlungsunfähig werden lässt, doch die beiden halten zusammen wie Pech und Schwefel.
    Gianna hat angefangen, unsere Geschichte aufzuschreiben. Wir haben ganze Nächte durchgemacht und darüber geredet, was geschehen ist, obwohl wir unsere Schilderungen schon auswendig kannten. Aber es musste sein.
    Ich weiß nicht, ob Colin und ich für immer zusammenbleiben. Ich weiß nicht, ob Tillmann über das hinwegkommt, was ihm widerfahren ist, und ob
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