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Dorfpunks (German Edition)

Dorfpunks (German Edition)

Titel: Dorfpunks (German Edition)
Autoren: Rocko Schamoni
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ausstieß. Mit wedelnden Bewegungen versuchte er, sich Sicht zu verschaffen und die Fußgänger, die ihn verwundert anstarrten, von der Straße zu treiben. Was war denn in den gefahren? Kurz vor der scharfen Kurve der Einfahrt geriet er vollends in Panik und schrie uns zu, wir sollten abspringen. Im letzten Moment nahm Achim den Stock vom Gas, und das schwerfällige Vehikel schrammte mit knapper Not an der Mauer der Einfahrt vorbei. Der Alte spuckte Rotz und Wasser vor Wut auf den untreuen Trecker und ließ uns als unerwartete Reaktion in einem ersten Befehlshagel das gesamte Gefährt durchölen. Wir bezahlten den Preis murrend, erfreuten uns dafür aber später der schönen Erinnerung an die wilde Fahrt.
    An den Kühen konnten wir unsere Naturliebe genauso abreagieren wie unsere Gewaltphantasien. Wir fanden es sehr interessant, die Bullen von hinten mit der Forke in die Eier zu piken. Sie waren angekettet und konnten nicht weg. Sie brüllten und zogen an den Ketten, während wir in Loslaufstellung verharrten. Die Hühner schlugen wir mit den Mistforken um, dass sie ohnmächtig wurden und minutenlang nur noch torkeln konnten. Aber eigentlich liebten wir die Tiere. Es waren Tests. Lebenstests. Wer so was nicht brachte, war nicht cool in der Dorfjungsszene. Dafür einen Orden der Gewalt.
    Wir rotzten den ganzen Tag, und ab und zu rauchten wir HBs hinter Beckmanns Kuhstall. Beckmann war der zweite Bauer am Hof, es war ein Zwillingsgehöft, bei dem sich die Bauernhäuser gegenüberstanden. In der Mitte war ein großer Platz.
    Wer gut rotzen konnte, war angesagt, weil Rotzen Härte signalisierte. Rotzen und Rauchen waren Türen in die Erwachsenenwelt. Obwohl Erwachsene gar nicht rotzen, zumindest die wenigsten. Heutzutage ist Rotzen eh so gut wie out.
    Auf jeden Fall lag in alldem bereits ein stärker werdender selbstzerstörerischer Zug. Das fing auf einmal an, im Sommer 78, und war von da an nicht mehr zu stoppen. Der blutige Morgen der Jugend erhob sein wirres Haupt.
    Uns fehlte die Initiation, die Knaben in Naturvölkern durch die Gemeinschaft der erwachsenen Männer erfahren. Kontrollierte rituelle Verletzungen, Drogen oder Beschneidungen. All das gab es bei uns nicht, und keinen Mann, keinen Vater, der gemeinsam mit uns durch die Tür ins Mannsein gegangen wäre, geahnt hätte, was uns fehlte und wie er uns das hätte geben können. Nur die bescheuerte Bundeswehr, deren Mannwerdungsriten für mich ganz klar das Letzte waren. Also mussten wir uns diese Rituale selbst ausdenken, unbewusst, aber zielstrebig. Blutige, kriegerische Rituale. Nicht enden wollende Rituale des Übergangs.

Dinge wechseln den Besitzer
    Wir klauten wie die Raben. Sobald wir in der Schule Freistunden hatten, gingen Bernd Lose, Sonny Sommer (meine besten Schulfreunde) und ich zum Toom Markt, dem örtlichen Riesensupermarkt in Schmalenstedt, ganz in der Nähe der Schule. Er hatte in wenigen Jahren alle kleinen Nachbarschaftsläden aufgefressen. Wir liebten den Toom Markt, ich liebe ihn noch heute. Seitdem die Leute in Schmalenstedt nicht mehr in die Kirche gingen, trafen sie sich im Toom Markt. Es war der wichtigste Kommunikationsort der Stadt.
    Hier gab es viele Dinge, die wir gut gebrauchen konnten, vor allem Zigaretten und Schallplatten. Wie ein Rudel Wölfe umringten wir das Plattenregal. Wir waren so hungrig auf Hardrock und wir konnten die Platten nicht haben, weil sie zu teuer waren. Vor allem der AC/DC- und der KISS-Stapel hatten es uns angetan (abgesehen von Motörhead, Rory Gallagher, Ted Nugent, Saxon, Whitesnake, Rocky Horror Picture Show …). Hardrock war der ideale Soundtrack zur Mannwerdung. So hart wie der Sound und wie die breitbeinigen Mattenhengste auf den Covers, so hart wollten wir gerne werden.
    Es gab einen Oberdetektiv im Toom Markt, er hieß Herr Stichling und hatte uns bald als seine natürlichen Feinde erkannt. Er versuchte alles, um uns beim Klauen zu erwischen. Meist drückte er sich in seinem weißen Kittel wie zufällig hinter irgendwelchen Regalen herum und schielte dabei sackdumm zu uns rüber. Außerdem versuchte er es mit Spiegelsystemen. Sein größter Coup war allerdings das Bohren von kleinen Löchern in eine gegenüberliegende Holzverkleidung, hinter der er verschwinden konnte. Von hier aus war es ihm möglich, uns aus einer Distanz von zwei Metern auf die Finger zu schauen, und er selbst blieb dabei völlig unsichtbar. Bis auf seine einfältigen Pupillen hinter den Löchern. Jedes Mal wenn er zu unserer
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