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Don't worry, be German. Ein Ami wird deutsch

Titel: Don't worry, be German. Ein Ami wird deutsch
Autoren: John Doyle
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mir sitzt eine alte Frau, und deshalb muss ich mich mit dem Duzen beeilen.
Und das war halt mein Fehler. Sie war vielleicht 85. Vielleicht war sie sogar 95 Jahre alt, keine Ahnung. Aber auch dann wäre sie mit hundertprozentiger Sicherheit die dynamischste, agilste, lebendigste Fünfundneunzigjährige gewesen, die ich jemals in meinem Leben gesehen hatte!
    Nach einer Weile wurde mir klar:
Mensch, John! Du hättest dich überhaupt nicht beeilen müssen mit dem Duzen. Denn sie wird mindestens noch zehn Jahre leben. Dicke. Kein Problem. Vielleicht sogar 20. Und 20 Jahre sind sicherlich genug Zeit, um vom »Sie« ganz gemütlich auf das »Du« umzuschwenken.
     
    Wenn man als Ausländer nach Deutschland kommt, ist es sehr leicht, konfus zu werden. Ich habe zum Beispiel einmal im ZDF einen Film gesehen, in dem zwei Menschen, die gerade miteinander Sex hatten, sich danach immer noch siezten. Das verwirrte mich total: Zwei Leute hatten gerade Sex. Ich weiß, dass sie Sex gehabt hatten, denn im Gegensatz zum amerikanischen Fernsehen habe ich es gesehen. Nackte Brüste, nackte Pos und andere Körperteile, die du im amerikanischen Fernsehen in eintausend Jahren nicht zu
sehen bekommen würdest. In diesem Moment verstand ich endlich, was die Leute meinen, wenn sie sagen: »Mit dem Zweiten sieht man besser.« Es stimmt!
    Aber deswegen verstand ich immer noch nicht, warum sich die beiden im Film immer noch siezten? Sie hatten gemeinsam »Jaaa, JAAAAAA « und »Weiter, WEITER « geschrien. Gemeinsam geschwitzt, gehechelt und dann wieder »Weiter, weiter, WEITER !« gebrüllt. Und nachdem alles vorbei war, fragte die Frau den Mann, als hätte sie ihm gerade die Steuererklärung gemacht: »Haben Sie Durst? Ich könnte
Ihnen
ein Glas Wasser holen.« Und ich dachte: Sie?
Ihnen? Was ist denn mit denen los?
Und dann antwortete der Mann genauso leidenschaftslos: »Ich danke
Ihnen,
aber im Moment habe ich keinen Durst.«
    Ich dachte:
Mann, die hatten eben heißeren Sex als Mickey Rourke und Kim Basinger in »9½ Wochen«! Die Frau hätte doch mindestens sagen können: »Hello, ich bin die Gisela.« Und der Mann: »Angenehm, und ich der Heinz.«
Aber vielleicht hatten sie sich das nicht getraut. Vielleicht waren beide der Meinung gewesen: »Ich bin bereit für wilden Sex, aber noch nicht für die intime Du-Ebene.« Vielleicht war der Sex ja auch nicht gut genug dafür gewesen? Ganz nach dem Motto: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!«
    Ich war mir letztendlich nicht sicher, warum die beiden sich immer noch siezten, aber in dem Moment fasste ich folgenden Entschluss:
John, wenn du hier in Deutschland das erste Mal Sex hast und du möchtest danach die anwesende Frau duzen, dann streng dich an, John! STRENG DICH AN !
     
    Was mich betrifft, fällt mir auf, dass mich viele Leute heutzutage öfter siezen als duzen. Ich habe mit meinem Sohn darüber geredet — er ist Teenager, und als Teenager hat er
jetzt natürlich zu allen möglichen Themen eine Meinung. Deshalb dachte ich:
Vielleicht hat er auch zu diesem Thema eine.
Ich stellte ihm also folgende Frage: »Könnte es sein, dass mich mehr und mehr Leute hier in Deutschland siezen, weil sie mich vielleicht mehr respektieren als früher?« Er überlegte kurz und antwortete dann: »Ja, das könnte sein. Aber es könnte auch sein, dass sie dich siezen, weil sie denken, du bist ein alter Sack.« Und in dem Moment war mir wieder klar:
Wie schön es doch ist, einen Teenager zu Hause wohnen zu haben!
    Aber ich befürchte, dass es zum Teil leider stimmt, was er sagte.
    Den Beweis bekam ich einmal nach einem Auftritt in einer Kneipe geliefert. Und der Auftritt lief sehr gut, so gut, dass ich danach sogar den Mut aufbrachte, die schöne Kellnerin hinter dem Tresen anzusprechen. Sie war groß, attraktiv und politisch sehr interessiert. Ich wusste das, weil sie ein T-Shirt mit der Aufschrift »Fuck Bush« anhatte. Also sprach ich sie an.
    »Wie geht es dir heute Abend?« Und als ich diese Frage stellte, erwartete ich so was wie: »Ganz gut. Und dir?« Ich erwartete eine Antwort, in der das Wort » DIR « vorkam, in der das Wort » DIR « eine zentrale Rolle spielte.
    Sie zog lange an ihrer Zigarette, stieß ganz cool den Rauch aus und antwortete dann lässig: »Mir geht es gut. Und
Ihnen?«
    Ich war geschockt. Ich war verunsichert. Ich kam mir plötzlich fünfzig Jahre älter vor und fragte mich:
Warum siezt sie mich? Hält sie mich etwa für einen alten Sack, wie es mein Sohn schon behauptet hatte?
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