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Dolores

Dolores

Titel: Dolores
Autoren: Stephen King
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Mir ist aufgefallen, daß das, was bei einem Streit obenauf liegt, sich meist ganz erheblich von dem unterscheidet, was druntersteckt, und es kann durchaus sein, daß sie in diesem Sommer in Wirklichkeit um das stritten, was im Jahr zuvor mit Michael Donovan passiert war.
    Sie und der Ungar haben den Mann umgebracht, Andy. Sie hat alles getan, außer mit der Sprache herauszurücken und es mir zu sagen. Auch sie ist nicht erwischt worden, aber manchmal gibt es in Familien Leute, die über Stücke des Puzzles verfügen, die das Gesetz nie zu Gesicht bekommt. Leute wie Selena zum Beispiel - und vielleicht auch Leute wie Donald und Helga Donovan. Ich wüßte gern, wie sie sie in diesem Sommer angeschaut haben, bevor sie diesen Streit im Harborside Restaurant hatten und Little Tall zum letzten Mal verließen. Ich habe immer wieder versucht, mich zu erinnern, wie ihre Augen ausgesehen haben, wenn sie sie ansahen, ob sie so waren wie die von Selena, als sie mich ansah; aber ich kann es einfach nicht. Vielleicht gelingt es mir irgendwann, aber das ist nichts, woran mir sonderlich viel liegt, wenn ihr versteht, was ich damit meine.
    Ich weiß, daß ein kleiner Draufgänger wie Donald Donovan mit sechzehn zu jung war für einen Führerschein viel zu jung -, und wenn man diesen schnellen Flitzer dazunimmt, ist eine Katastrophe fast schon vorprogrammiert. Vera war intelligent genug, um das zu wissen, und sie muß eine Heidenangst gehabt haben; vielleicht hatte sie den Vater gehaßt, aber den Sohn liebte sie wie das Leben selbst. Ich weiß, daß sie das tat. Trotzdem schenkte sie ihm den Wagen. Zäh, wie sie nun einmal war, gab sie ihm diese Rakete in die Hände - und, wie sich herausstellte, auch Helga -, als er in der High School gerade erst in der zweiten Klasse saß und sich vermutlich noch nicht einmal rasieren mußte. Ich glaube, es war Schuldbewußtsein, Andy. Und vielleicht möchte ich denken, daß es nur das war, weil mir der Gedanke nicht gefällt, daß auch Angst mit im Spiel war - Angst davor, daß zwei reiche Kinder auf die Idee gekommen sein könnten, ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters zu erpressen und die Dinge zu verlangen, die sie haben wollten. Ich glaube es eigentlich nicht - aber es wäre durchaus möglich. In einer Welt, in der ein Mann Monate mit dem Versuch verbringen kann, mit seiner eigenen Tochter ins Bett zu gehen, ist so ziemlich alles möglich.
    »Sie sind tot«, sagte ich. »Das ist es, was Sie gesagt haben.«
    »Ja«, sagte er.
    »Sie sind seit über dreißig Jahren tot«, sagte ich. 
    »Ja«, sagte er wieder.
    »Und alles, was sie mir von ihnen erzählt hat«, sagte ich, »war also gelogen.«
    Er räusperte sich abermals - dieser Mann ist einer der größten Räusperer der Welt, wenn man nach meinem Gespräch mit ihm urteilen kann -, und als er weitersprach, hörte er sich fast menschlich an. »Was hat sie Ihnen über sie erzählt, Miz Claiborne?«
    Und als ich darüber nachdachte, Andy, da wurde mir klar, daß sie mir eine Menge erzählt hatte, angefangen mit dem Sommer 1962, als sie ankam und zehn Jahre älter und zwanzig Pfund leichter aussah als im Jahr davor. Ich erinnere mich, wie sie sagte, daß Donald und Helga vielleicht den August in Pinewood verbringen würden, und ich sollte dafür sorgen, daß wir genügend Quaker Rolled Oats hatten, die das einzige waren, was sie zum Frühstück aßen. Ich erinnere mich, wie sie im Oktober zurückkam - das war in dem Herbst, in dem Kennedy und Chruschtschow sich überlegten, ob sie die ganze Welt in die Luft jagen sollten oder nicht -, und mir sagte, in Zukunft würde ich wesentlich mehr von ihr sehen. »Und ich hoffe, Sie werden auch die Kinder kennenlernen«, hatte sie gesagt, aber da war etwas in ihrer Stimme gewesen, Andy - und in ihren Augen…
    Es waren vor allem ihre Augen, an die ich denken mußte, als ich dastand mit dem Hörer in der Hand. Im Laufe der Jahre hatte sie mir mit dem Mund alles mögliche erzählt, wo sie zur Schule gingen, was sie taten, wen sie besuchten (Vera zufolge war Donald verheiratet und hatte zwei Kinder; Helga hatte auch geheiratet, war aber geschieden), aber jetzt wurde mir klar, daß ihre Augen mir seit dem Sommer 1962 immer wieder nur das eine gesagt hatten: sie waren tot. Ja - aber vielleicht doch nicht ganz tot. Jedenfalls so lange nicht, wie es auf einer Insel vor der Küste von Maine eine unansehnliche, dürre Haushälterin gab, die immer noch glaubte, daß sie am Leben waren.
    Von dort aus taten meine
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