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Dolores

Dolores

Titel: Dolores
Autoren: Stephen King
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Gedanken einen Sprung vorwärts zum Sommer 1963 - dem Sommer, in dem ich Joe umbrachte, dem Sommer der Finsternis. Sie war fasziniert gewesen von der Sonnenfinsternis; nicht nur, weil sie etwas war, das man in seinem Leben nur einmal zu sehen bekam. Keineswegs. Sie war in sie verliebt, weil sie glaubte, sie wäre genau das, was Donald und Helga nach Pinewood zurückbringen würde. Das hatte sie immer und immer wieder zu mir gesagt. Und das Ding in ihren Augen, das Ding, das wußte, daß sie tot waren, war in diesem Frühjahr und Frühsommer für eine Weile verschwunden.
    Wisst ihr, was ich glaube? Ich glaube, zwischen März oder April 1963 und Mitte Juli war Vera Donovan verrückt; ich glaube, in diesen paar Monaten glaubte sie tatsächlich, sie wären am Leben. Sie löschte das Bild der aus dem Steinbruch geborgenen Corvette aus ihrer Erinnerung; sie glaubte sie mit schierer Willenskraft ins Leben zurück. Glaubte sie zurück? Nein, das stimmt nicht ganz. Sie verfinsterte sie ins Leben zurück.
    Sie wurde verrückt, und ich glaube, sie wäre gern verrückt geblieben - vielleicht, weil sie sie auf diese Weise zurückhaben konnte, vielleicht, um sich selbst zu strafen, vielleicht beides gleichzeitig. Aber letzten Endes steckte in ihr zuviel gesunder Menschenverstand, und sie schaffte es nicht. In den letzten acht oder zehn Tagen vor der Finsternis begann alles zusammenzubrechen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir, die wir damals für sie arbeiteten, alle Vorbereitungen trafen für diesen Finsternis-Ausflug und die anschließende Party, als wäre es gestern gewesen. Den ganzen Juni hindurch und Anfang Juli war sie bester Laune gewesen, aber um die Zeit, als ich die Kinder fortschickte, ging alles zum Teufel. Vera fing an, sich zu benehmen wie die Rote Königin in Alice in Wonderland, schrie Leute an, wenn sie ihr nur einen schiefen Blick zuwarfen, und feuerte Aushilfsmädchen am laufenden Band.
    Das war ihr letzter Versuch gewesen, sie ins Leben zurückzuwünschen, aber jetzt wußte sie, daß sie tot waren. Sie hat es von da an immer gewußt, aber sie machte trotzdem weiter mit den Vorbereitungen für die Party, die sie geplant hatte. Könnt ihr euch vorstellen, welcher Mut dazu gehörte? Welcher totale, unbedingte, tief verwurzelte Mut?
    Ich erinnere mich auch an etwas, das sie sagte - das war, nachdem ich ihr wegen der Entlassung des JolanderMädchens meine Meinung gesagt hatte. Als Vera später zu mir kam, war ich ganz sicher, daß sie mich auch hinauswerfen würde. Statt dessen gab sie mir eine Tüte mit Zeug zum Betrachten der Finsternis und sagte etwas, das - zumindest für Vera Donovan - einer Entschuldigung gleichkam. Sie sagte, manchmal müßte eine Frau ein arrogantes Luder sein. »Manchmal«, erklärte sie mir, »ist ein Luder sein alles, woran eine Frau sich festhalten kann.«
    Und so war es, dachte ich. So war es, wenn sonst nichts übrigbleibt. So ist es immer.
    »Miz Claiborne?« sagte eine Stimme in mein Ohr, und da erinnerte ich mich, daß er immer noch am Apparat war; ich hatte mich sehr weit davon entfernt. »Miz Claiborne, sind Sie noch da?«
    »Ja, ich bin noch da«, sagte ich. Er hatte mich gefragt, was sie mir erzählt hatte, und das hatte gereicht, um mich in die alten Zeiten zurückzuversetzen - aber ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm all das hätte sagen können, einem Mann in New York, der nichts davon wußte, wie wir hier auf Little Tall leben. Wie sie hier auf Little Tall lebte. Anders ausgedrückt - er wußte eine Menge über Upjohn und Mississippi Valley Light and Power, aber nicht das geringste über die Drähte in den Ecken.
    Oder die Staubflocken.
    »Ich fragte, was sie Ihnen erzählt hat…«
    »Sie hat mich angewiesen, ihre Betten zu beziehen und dafür zu sorgen, daß immer ein Vorrat an Quaker Rolled Oats im Hause war«, sagte ich. »Sie sagte, sie wollte vorbereitet sein, weil sie sich jederzeit entschließen könnten, zu Besuch zu kommen.« Und das kam der Wahrheit nahe genug, Andy - jedenfalls für Greenbush. 
    »Das ist erstaunlich!« sagte er, und es hörte sich an, als sagte ein Spezialist: »Das ist ein Gehirntumor!«
    Danach redeten wir noch eine Weile weiter, aber an das, worüber wir sprachen, erinnere ich mich nicht mehr so genau. Ich glaube, ich sagte ihm noch einmal, daß ich das Geld nicht wollte, keinen roten Heller davon, und nach der Art zu urteilen, in der er mit mir redete freundlich und liebenswürdig und irgendwie auf mich eingehend -, war ich ganz sicher,
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