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Dolores

Dolores

Titel: Dolores
Autoren: Stephen King
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Andy, daß du ihm, als er dich anrief, nichts von den neuesten Nachrichten weitergegeben hast, die du vermutlich von Sammy Marchant bekommen hattest. Ich nehme an, du hast gedacht, das ginge ihn nichts an, jedenfalls noch nicht.
    Ich weiß noch, daß ich ihm gesagt habe, er sollte alles den Little Wanderers geben, und daß er daraufhin lachte, als wäre das der tollste Witz, den er je gehört hatte. Er sagte, er wäre ziemlich sicher, daß er im Gefängnis landen würde, wenn er das Geld von jemand anderem weggäbe, selbst wenn es ein Waisenhaus war, dem er es gab. Er sagte, ich könnte es den Little Wanderers schenken, wenn ich wollte (aber selbst dem größten Dämlack der Welt wäre klargewesen, daß er überzeugt war, daß ich nichts dergleichen tun würde, sobald ich erst einmal zur Besinnung gekommen war und begriffen hatte, was passiert war), aber er dürfte es nicht anrühren. 
    Schließlich versprach ich, daß ich ihn wieder anrufen würde, wenn ich Zeit gehabt hatte, »ein bißchen klarer im Kopf« zu werden, wie er es ausdrückte, und dann legte er auf. Lange Zeit stand ich nur da - es muß eine Viertelstunde oder mehr gewesen sein. Mir war schauderhaft zumute. Mir war zumute, als wäre das Geld überall um mich herum, als klebte es an mir, wie das Ungeziefer an den Fliegenfängern geklebt hatte, die mein Dad damals, als ich noch klein war, jeden Sommer in der Toilette draußen auf dem Hof aufhängte. Ich hatte Angst, daß es, sobald ich anfing, mich zu bewegen, immer fester an mir kleben würde, bis ich nicht mehr die geringste Chance hatte, mich von ihm zu befreien.
    Als ich dann schließlich doch anfing, mich zu bewegen, hatte ich völlig vergessen, daß ich zu dir aufs Revier kommen wollte, Andy. Um die Wahrheit zu gestehen ich vergaß sogar beinahe, mich anzuziehen. Schließlich zog ich alte Jeans und einen Pullover an, obwohl das Kleid, das ich eigentlich tragen wollte, auf dem Bett bereitlag (wo es vermutlich immer noch liegt, es sei denn, jemand ist eingebrochen und hat mit dem Kleid gemacht, was er eigentlich mit der Person machen wollte, die hineingehört). Ich zog meine alten Galoschen an, und damit ließ ich es gut sein.
    Ich ging um den großen weißen Felsbrocken hinter dem Schuppen herum und um das Brombeergestrüpp, wo ich eine Minute stehenblieb, um hineinzuschauen und zu hören, wie der Wind die dornigen Zweige rascheln ließ. Ich konnte gerade noch das Weiß der neuen Brunnenabdeckung aus Beton erkennen. Als ich sie betrachtete, fing ich an zu zittern wie jemand, dem eine schlimme Erkältung oder eine Grippe in den Knochen steckt. Ich nahm die Abkürzung über Russian Meadow und ging dann runter zu der Stelle, wo am East Head die Straße aufhört. Dort stand ich eine Weile und wartete, bis mir der Seewind das Haar zurückgeweht und mich saubergewaschen hatte, wie er es immer tut, und dann stieg ich die Treppe hinunter.
    Mach nicht so ein besorgtes Gesicht, Frank - das Tau an ihrem oberen Ende und das Schild, auf dem TREPPE MORSCH - NICHT BETRETEN steht, sind nach wie vor da; es war einfach so, daß mir nach allem, was ich durchgemacht hatte und was mir noch bevorstand, völlig egal war, ob die Treppe morsch war oder nicht.
    Ich stieg die ganze Treppe hinunter, eine Stufe nach der anderen, bis ich unten bei den Felsen angekommen war. Ihr wißt ja, daß da früher einmal der Anleger war Simmons Dock nannten ihn die alten Leute -, aber jetzt ist nichts mehr davon übrig als ein paar Pfeiler und zwei große Eisenringe, die man in den Granit eingesetzt hatte, völlig verrostet und zerfressen. Sie sehen so aus, wie ich mir die Augenhöhlen im Schädel eines Drachen vorstellen würde, wenn es so etwas wirklich gäbe. Ich habe oft mit meinen Schwestern auf dem Anleger gesessen und geangelt, Andy, und ich habe wohl gedacht, er würde immer da sein, aber schließlich holt das Meer sich alles. Ich kann mir vorstellen, daß es sich irgendwann einmal diese ganze verdammte Insel holen und unsere Knochen weit wegspülen wird. Und wenn schon. Im Augenblick ist mir so ziemlich alles egal. Zu müde wahrscheinlich. 
    Ich saß auf der untersten Stufe und ließ meine Galoschen runterhängen, und da saß ich die nächsten sieben Stunden. Ich sah zu, wie die Flut auslief und wieder hereinkam; erst dann war ich so weit, daß ich den Ort verlassen konnte.
    Zuerst versuchte ich, an das Geld zu denken, aber ich konnte meinen Verstand nicht dazu bringen. Leute, die ihr ganzes Leben lang viel Geld gehabt haben,
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