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Doener, Machos und Migranten

Titel: Doener, Machos und Migranten
Autoren: Betuel Durmaz
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Mit Sicherheit wären wir andere Menschen mit anderen Biografien.
    Anfang November 1968 machten sich mein Vater und meine Mutter auf den Weg zum Bahnhof. Dort herrschte ein Menschenauflauf, der so gewaltig war, dass ein durchschnittlicher Westeuropäer sich ihn kaum vorstellen kann. Wenn Türken verreisen, verreisen sie vielleicht allein, aber sie gehen nieallein zum Zug, denn viele Menschen begleiten sie, um die Reisenden zu verabschieden. Neben meinem Vater waren noch ihre Mutter, ihre fünf Brüder, fünf Freundinnen mitsamt ihrer Eltern und zahlreiche Nachbarn zum Bahnhof gekommen, um meiner Mutter alles Gute für die Reise zu wünschen. «Möge Allah deinen Weg frei halten und euch als Familie wieder zusammenführen.» Eine gleich große Menschenansammlung entsteht übrigens auch, wenn jemand ankommt. Auch hier finden sich immer weitaus mehr Abholer auf dem Bahnsteig oder im Flughafen ein, als es Ankommende gibt.
    Auf dem Bahnhof von Sirkeci mussten meine Eltern erst einmal Kalbiye, die Freundin meiner Mutter finden. Natürlich wurde sie von einem ähnlich großen Menschenpulk zum Zug gebracht wie meine Mutter. Viele, viele Menschen mit einer noch viel größeren Anzahl an Gepäckstücken bevölkerten einen Stadtteilbahnhof, der für solche Massen nicht ausgerichtet war. Die meisten Koffer hatten nichts gemein mit den praktischen Samsonite- oder Delseykoffern, die wir heute gewöhnt sind. Die damaligen Koffer hatten keine Rollen und waren mit Stoffbezügen geschützt. Nicht selten bestand das Gepäck aus Paketen und Kartons, die in Decken eingewickelt und mit dicken Schnüren zugebunden waren. Fliegende Händler verkauften Getränke, Sesamkringel und diverse andere Dinge für die lange Reise. Mit ihren mobilen Verkaufsständen und Tragegeschirren erschwerten sie es jedoch den beiden aufgeregten Frauen und ihren Begleitern, den richtigen Bahnsteig zu finden.
    Alle angeworbenen Gastarbeiterinnen mussten sich je nach Zielort und Fabrik an einem bestimmten Gleis einfinden. Dort wurden sie namentlich aufgerufen. Anschließend galt es, einen guten Platz im Zug zu ergattern. Nun kam der Moment des Abschieds, der sicherlich keinem der Begleiter leicht gefallen ist. Wäre es nach meiner Oma oder meinen fünf Onkeln gegangen, hätten sie diese Reise niemals erlaubt. Doch nunwar meine Mutter verheiratet und sie hatten sich nicht mehr einzumischen. Die Entscheidung des Ehemannes hatte Priorität. Dennoch war es ein Abschied mit vielen Tränen, zumal es zu spät war, die Sache noch einmal zu überdenken.
    Meine Mutter saß mit sieben anderen Frauen in einem Abteil. Da sie ihre Freundin Kalbiye neben sich hatte, fühlte sie sich nicht ganz so einsam. Viele der mitreisenden Frauen sprachen einen unterschiedlichen Dialekt, denn nur wenige stammten aus Istanbul und hatten bereits eine lange Reise hinter sich. Sie kamen aus Gegenden Anatoliens und der Schwarzmeerregion und waren eindeutig in der Mehrzahl. Im Gegensatz zu meiner Mutter und ihrer Freundin trugen diese Frauen ein Kopftuch. Doch trotz der kulturellen Unterschiede herrschte zwischen den Frauen eine gelöste familiäre und solidarische Stimmung. Fast alle waren verheiratet und hatten bereits Kinder.
    Das wirklich Schöne am Reisen mit Türken sind die vielen mitgebrachten Speisen und die Gastfreundschaft. Alle dürfen mitessen, niemand muss mit knurrendem Magen im Zug sitzen. Jede der Frauen hatte viel zu viel Reiseproviant dabei. Alles wurde schwesterlich geteilt. Die unterschiedlichsten Spezialitäten, die teilweise auf mitgebrachten Gaskochern im Abteil erwärmt wurden, verkürzten die unendlich lange Zugreise. Selbstverständlich wurde auch der klassische türkische Cay gereicht – das ist der schwarze Tee, der aus kleinen Gläsern nach dem Essen getrunken wird. Man könnte also sagen, dass jedes Abteil zu einem eigenen kleinen «Restaurantwagen» wurde. Schließlich konnten die Frauen ihren Abschiedsschmerz und das aufkommende Heimweh mit gefüllten Mägen etwas leichter ertragen. Meine Mutter aß während der langen Reise nicht wirklich viel, aber auch ein paar Gläser starken türkischen Tees halfen zumindest zeitweise ihre Traurigkeit zu lindern.
    Ich erinnere mich noch an die langen Autoreisen in den von der ganzen Familie heiß ersehnten Sommerurlaub in die Türkei, die wir alle vier Jahre unternahmen. Wir lebten damals bereits in Deutschland und fuhren mit dem Auto durch Österreich, Jugoslawien und Bulgarien in die Türkei. Im Spaß schimpfte mein Vater
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