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Doener, Machos und Migranten

Titel: Doener, Machos und Migranten
Autoren: Betuel Durmaz
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immer: «Warum nehmen wir bloß immer den halben Kofferraum voller Lebensmittel mit?» Dann fügte er grinsend hinzu: «Auf dem Weg und an sämtlichen Raststätten sind doch unsere Landsleute. Wir brauchen nur zu grüßen und haben sofort eine Einladung zum Essen. Dann könnten wir viel Platz sparen …» Diese Späße machte er auf jeder Urlaubsfahrt aufs Neue. Vermutlich haben wir während dieser Autofahrten nicht sehr viel anders gegessen, als meine Mutter im Zug – zumindest hinsichtlich der Menge und der Atmosphäre. Irgendwie müssen wir Türken immer ziemlich viel essen und tun dies am liebsten gemeinsam mit anderen.

    Nach drei Tagen und zwei Nächten ununterbrochener Zugfahrt kamen meine Mutter und ihre Freundin erschöpft und ziemlich verunsichert in der Wiener Neustadt an. Außer ihnen stieg nur eine weitere Frau aus. Die anderen Mitreisenden waren für eine andere Textilfabrik vorgesehen und mussten bis zum Hauptbahnhof fahren. Auf dem Bahnsteig wartete ein türkischer Dolmetscher auf die drei Frauen und begrüßte sie. Anschließend brachte er sie mit dem Wagen in die für sie vorgesehenen Wohnheime. Nach einer kurzen Autofahrt kamen sie in ihrem neuen Zuhause an. Sie fuhren durch einen Torbogen in einen Innenhof, umrahmt von drei dreistöckigen, u-förmig aneinandergebauten Wohnhäusern.
    Die Wohnkasernen wurden ausschließlich von verheirateten Paaren und alleinstehenden Frauen bewohnt. Alleinstehende Männer, die in der gleichen Fabrik arbeiteten, lebten inetwas weiter entfernt gelegenen Wohnheimen. Es wurde also auf eine strenge Geschlechtertrennung geachtet – ein Grundprinzip in orientalischen Gesellschaften. Wäre nicht von vorneherein bekannt gewesen, dass alleinstehende Männer und Frauen strikt getrennt voneinander wohnten, hätte kein türkischer Mann seine Frau und keine türkische Familie ihre Tochter oder ihren Sohn in die Fremde ziehen lassen.
    Gemeinsam mit ihrer Freundin erhielt meine Mutter ein Zimmer in einem der Häuser zugeteilt. Das Interieur der Räume war stets gleich spartanisch. Das Zimmer, das für die nächsten Monate das Zuhause meiner Mutter sein sollte, war etwa 20 qm groß. Die Einrichtung bestand aus zwei recht kleinen Holzbetten, in die nur schmale Menschen hineinpassten, was zum Glück auf meine Mutter und ihre Freundin zutraf. Ein Kleiderschrank, zwei Holzstühle mit einem rustikalen Holztisch und ein Dielenboden ohne Teppich komplettierten die «luxuriöse» Ausstattung.
    Noch heute erinnert sich meine Mutter vor allem an die Matratzen, die mit echtem Stroh gefüllt waren. Eine ziemlich ungewöhnliche Schlafqualität für sie und ihre Freundin. Der Wohnraum war mit etwa 3,5 m außergewöhnlich hoch. Das einzige Fenster hatte nur eine einfache Verglasung, eine Gardine oder ein Rollo fehlten. Die Frauen versuchten, mit einem kleinen Kohleofen zu heizen. Doch es blieb bei dem Versuch; meine Mutter und vermutlich auch alle anderen Gastarbeiterinnen haben dort ziemlich viel gefroren.
    Ein kleiner angrenzender Raum diente als Küche. Auch hier gab es nur die allernotwendigste Ausstattung: ein altmodischer Küchenschrank mit je zwei Tassen, Tellern, Messern, Löffeln, Gabeln, Gläsern und zwei unterschiedlich großen Töpfen. Gekocht wurde auf einem Elektroherd mit zwei Platten, gespült in einer eingebauten Keramikspüle. Ein kleiner Kühlschrank gehörte ebenfalls zum Mobiliar. Fließend Warmwasser gab esnicht. Wer warmes Wasser zum Spülen benötigte, musste es sich erst mühselig in einem Kochtopf erhitzen.
    Das WC befand sich im Hausflur. Es wurde von insgesamt vier «Zweier-WGs», also von acht Frauen, geteilt. Ein separates Badezimmer gab es nicht. Meine Mutter und ihre Freundin wuschen sich in einer Zinnwanne und an freien Wochenenden ging es in eine Sauna zum Waschen und Entspannen – in eine Sauna nur für Frauen versteht sich.
    Das Mobiliar und die damit verbundene Wohnqualität entsprach ganz und gar nicht dem Standard, den meine Mutter aus ihrer Eigentumswohnung gewohnt war. Doch diesen Preis musste sie für ihren emanzipatorischen Willen zahlen. Abgesehen von diesem Minimalismus, auf den sich die Frauen einstellen mussten, war der Monat November natürlich von der Jahreszeit auch denkbar ungünstig, um sich als Südeuropäerin im fremden Österreich auf Anhieb wohlzufühlen.
    Nachdem meine Mutter und Kalbiye ihr neues Zuhause erstmals in Augenschein genommen hatten, brachen sie in Tränen aus. Ihre Ernüchterung war groß. Die Umgebung, in der sie nun leben
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