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Doener, Machos und Migranten

Titel: Doener, Machos und Migranten
Autoren: Betuel Durmaz
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ausgefüllt und eingereicht, jedoch nicht in der Erwartung einer positiven Rückmeldung. Und dann flattert nach relativ kurzer Zeit eine Nachricht ins Haus, die zwischen den Zeilen eine deutliche Sprache spricht: Wenn Sie gesundheitlich fit sind, dann werden Sie als Gastarbeiterin akzeptiert.
    Meine Mutter und ihre Freundin gingen zum genannten Termin und ließen sich untersuchen. Es war eine große Zahl potenzieller Gastarbeiterinnen anwesend. Meine Mutter erzählte später, dass sie diesen Tag in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen wird: Nach eigenen Worten kam sie sich vor wie ein Pferd, das zum Verkauf angeboten wird. Zuerst wurde sie gewogen, gemessen, ihre Füße wurden in Augenschein genommen. Sie musste Kniebeugen machen, ihre Wirbelsäule wurde abgetastet und sie ließ eine Reihe weiterer Untersuchungen über sich ergehen, darunter auch eine zahnmedizinische. Der anwesende Allgemeinmediziner forderte sie auf, den Mund zu öffnen, und schaute nur kurz nach, ob nicht eine deutlich sichtbare Zahnfäulnis bestand. Zumindest dieser Teil derUntersuchung erscheint aus heutiger Sicht eher erniedrigend als medizinisch notwendig und seriös. Die Gedanken meiner Mutter an einen Viehhandel waren also nicht weit hergeholt. Meine Mutter und ihre Freundin Kalbiye bestanden den Gesundheitscheck und erhielten anschließend den notwendigen sanitätspolizeilichen Unbedenklichkeitsvermerk, sprich «Infektionsfreiheitsschein» (so die offizielle Bezeichnung).
    In der folgenden Woche (Oktober 1968) bekamen die beiden Frauen erneut Post. Nun erfuhren sie mehr über ihr zukünftige Arbeitsstelle in Österreich: Pottendorfer Textilwerke AG, Fabrikstraße 15, 2603 Felixdorf. Meiner Ansicht nach hörte sich das weder besonders einladend noch gemütlich an, doch für meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt kein Deutsch verstand, klang diese Adresse paradiesisch. Sie war das Synonym für ein eigenverantwortliches, autonomes Leben. Anfang November sollte es losgehen, mit dem Zug vom Ortsteil Sirkeci in Istanbul Richtung Wiener Neustadt in Österreich.
    Nun musste meine Mutter allmählich ans Kofferpacken gehen. Was sollte sie mitnehmen? Den Winter in Österreich mit seinen Schneemassen kannten meine Eltern nur von Bildern. Solche Temperaturen gab es in Istanbul nicht. Daher besaß auch niemand schneefeste Kleidung. Wie sah die Garderobe meiner Mutter aus und was davon konnte sie gebrauchen? Ohne auch nur einen Blick in den Kleiderschrank zu werfen, wusste sie, dass vieles fehlte – Goretexschuhe ebenso wie Daunenmäntel und warme Jacken.

    Es gab also eine ganze Reihe von Unsicherheiten, zumal meine Familie ja auch niemanden kannte, der über die nötigen Erfahrungen verfügte und wertvolle Tipps hätte geben können. Sehr schnell stellte sich die Frage, welche Lebensmittel Türken und Muslime in Österreich kaufen konnten. Gab es dort, in dem fremden Alpenland, überhaupt Lebensmittel, diefür uns genießbar waren? Auf die Existenz von türkischen Lebensmittelläden, wie sie zumindest in Deutschland an vielen Ecken zu finden sind, konnte damals niemand vertrauen, denn es gab sie nicht. Es herrschte also große Unsicherheit über die lokalen Lebensmittelgeschäfte und deren Angebot, zumal viele Bekannte diverse Geschichten erzählten, die nicht weiterhalfen, sondern nur noch mehr verunsicherten. Es stand fest: Vor der Abreise musste auch eine große Tasche mit Gemüse, Gewürzen und Teigwaren gepackt werden.
    Schließlich war es soweit. Meine Mutter, die mit ihren 21 Jahren noch sehr jung war und über nahezu keine kosmopolitischen Erfahrungen verfügte, musste Abschied von ihrem Mann und uns kleinen Kindern nehmen. Es war mit Sicherheit nicht einer ihrer glücklichsten Tage – und gerade deshalb ein Tag, den sie nie in ihrem Leben vergessen wird.
    Manchmal frage ich mich, hätte ich ähnlich gehandelt? Die Frage lässt sich aus meiner Perspektive nur schwer beantworten. Eine Trennung von meinem Sohn ist für mich, wenn auch nur temporär, unvorstellbar. Ich lebe aber auch nicht unter vergleichbaren Umständen und möchte mir kein Urteil erlauben. Dennoch bewundere ich meine Mutter für ihren Mut und ihren Willen, all die negativen Aspekte auf sich genommen zu haben. Letztendlich hatte dieser Schritt auch zur Folge, dass wir zu dem geworden sind, was wir jetzt sind. Mein Bruder und ich sind jedenfalls dankbar und manchmal fragen wir uns, was für Menschen wir wohl geworden wären, wenn unsere Mutter einen anderen Weg gewählt hätte.
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