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Doch die Sünde ist Scharlachrot

Doch die Sünde ist Scharlachrot

Titel: Doch die Sünde ist Scharlachrot
Autoren: George Elizabeth
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unbeschädigt, doch als sie eilig das Gebäude umrundete, um nach weiteren Spuren eines Eindringlings zu suchen, entdeckte sie die zerbrochene Scheibe im Fenster gleich neben der Hintertür, die sich zum Bach hin öffnete, und die Tür selbst stand einen Spaltbreit offen. Ein frischer Lehmklumpen lag auf der Schwelle.
    Sie wusste, eigentlich hätte sie ängstlich oder zumindest vorsichtig sein sollen, doch stattdessen empfand Daidre Zorn über das zerbrochene Fenster. Aufgebracht riss sie die Tür auf und trat durch die Küche ins Wohnzimmer – und blieb wie angewurzelt stehen. Im schwachen Licht des dämmrigen Tages sah sie einen Mann aus dem Schlafzimmer kommen. Er war groß, bärtig und so ungepflegt, dass sie ihn über die gesamte Tiefe des Zimmers hinweg riechen konnte.
    »Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder was Sie hier suchen, aber Sie werden auf der Stelle gehen! Wenn nicht, werde ich Gewalt anwenden, und ich versichere Ihnen, dass Sie das nicht wollen.« Dann tastete sie hinter sich nach dem Schalter für die Küchenlampe. Sie fand ihn, und helles Licht fiel bis ins Wohnzimmer, bis zu den Füßen des Mannes. Er kam einen Schritt auf sie zu, trat ins Licht, und sie konnte sein Gesicht sehen.
    »Mein Gott«, stieß sie hervor. »Sie sind verletzt. Ich bin Ärztin. Kann ich Ihnen helfen?«
    Er zeigte in Richtung Meer. Wie immer konnte sie die See von hier aus hören, aber sie schien irgendwie näher zu sein als sonst – das Rauschen verstärkt vom auflandigen Wind. »Am Strand liegt eine Leiche«, stammelte er. »Auf den Felsen, am Fuß der Klippe. Sie ist … Er ist tot. Ich bin hier eingebrochen. Es tut mir leid. Ich ersetze Ihnen den Schaden. Ich habe ein Telefon gesucht, um die Polizei zu verständigen. Wo sind wir hier?«
    »Eine Leiche? Bringen Sie mich hin!«
    »Er ist tot. Es gibt nichts …«
    »Sind Sie Arzt? Nein? Ich aber. Also: Bringen Sie mich hin! Wir verlieren kostbare Zeit, statt vielleicht ein Leben zu retten.«
    Der Mann sah aus, als wollte er Einwände erheben. Sie fragte sich, ob er ihr nicht glaubte. Du? Ärztin? Viel zu jung! Doch schließlich schien er ihre Entschlossenheit zu erkennen. Er nahm die Mütze ab, fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und verteilte unbemerkt Schlamm auf seinem Gesicht. Sein helles Haar war zu lang, stellte sie fest. Aber er war vom gleichen Typ wie sie: beide schlank und blond. Sie hätten Geschwister sein können; sogar seine Augen waren so braun wie die ihren.
    »Meinetwegen«, sagte er. »Kommen Sie mit.« Er durchquerte den Raum, ging an ihr vorbei und hinterließ seinen säuerlichen Körpergeruch: Schweiß, ungewaschene Kleidung, ungeputzte Zähne, Hautfett und irgendetwas anderes, was untergründiger und beunruhigender war. Sie wich zurück und blieb auf Distanz, als sie das Cottage verließen und den Weg hinabgingen.
    Der Wind war schneidend. Sie stemmten sich dagegen, genau wie gegen den Regen, während sie eilig zum Strand hinunterstiegen. Sie kamen zu der Stelle, wo der Bach sich zu einem Teich verbreiterte, ehe er sich über eine natürliche Felsbarriere zum Meer hinab ergoss. Hier begann Polcare Cove, bei Ebbe ein schmaler Strandstreifen, bei Flut lediglich Felsen und Klippen.
    »Dort drüben«, rief der Mann gegen den Wind an und führte sie zum nördlichen Ende der Bucht. Jetzt sah sie es selbst. Eine menschliche Gestalt lag dort auf dem Schieferfelsen: eine leuchtend rote Windjacke, eine dunkle, weite Hose, in der man sich bequem bewegen konnte, dünne und extrem flexible Schuhe. Sie trug eine Art Geschirr um die Hüften, von dem alle möglichen Metallgegenstände baumelten, dazwischen ein leichter Stoffbeutel, aus dem sich eine weiße Substanz über den Felsen ergossen hatte. Kreide für die Hände, dachte Daidre. Sie trat näher, um in das Gesicht der Gestalt zu sehen.
    »O mein Gott … Das ist … Er ist geklettert! Sehen Sie, da liegt sein Seil.« Das Seil – eine lange Nabelschnur, die noch mit dem Körper verbunden war – schlängelte sich von dem Gestürzten bis zum Fuß der Klippe und bildete dort einen ungleichmäßigen Haufen. Der Karabinerhaken am Ende schien auf den ersten Blick fachkundig angeknotet.
    Daidre tastete nach dem Puls, obschon sie wusste, dass sie keinen mehr finden würde. An dieser Stelle war die Klippe über sechzig Meter hoch. Wenn er von dort oben gestürzt war, und das war höchstwahrscheinlich passiert, hätte nur ein Wunder ihn retten können.
    Doch das war nicht eingetreten. »Sie hatten
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