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Doch die Sünde ist Scharlachrot

Doch die Sünde ist Scharlachrot

Titel: Doch die Sünde ist Scharlachrot
Autoren: George Elizabeth
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Schutz vor dem Wetter zu suchen.
    Als er die Klippe fast erklommen hatte, musste er sich hinsetzen. Er war außer Atem. Es war verwunderlich, dass die wochenlange Wanderung ihm inzwischen nicht genügend Ausdauer für die vielen Kletterpartien entlang der Küste verliehen hatte. Er hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, verspürte ein Ziehen, das er als Hunger identifizierte, und nutzte die Pause, um das letzte Stück der getrockneten Wurst zu verzehren, die er erstanden hatte, als er vor unbestimmter Zeit an einem Weiler vorübergekommen war. Dann stellte er fest, dass er auch durstig war, und stand auf, um sich nach irgendeiner Form menschlicher Behausung umzusehen: Dorf, Fischerhütte, Ferienhaus oder Farm.
    Doch es gab nichts dergleichen. Aber der Durst tat gut, dachte er resigniert. Der Durst war genau wie die spitzen Steine, die er durch die Schuhsohlen hindurch spürte, wie der Wind, wie der Regen. All das erinnerte ihn an die Dinge, an die er sich erinnern musste.
    Er wandte sich wieder der See zu und entdeckte einen einsamen Surfer jenseits der Linie, wo die Wellen sich brachen. Er hätte nicht sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn die Gestalt war von Kopf bis Fuß in schwarzes Neopren gehüllt – zu dieser Jahreszeit die einzige Möglichkeit, den eiskalten Temperaturen zu trotzen. Vom Surfen verstand er nichts, doch er erkannte in der Gestalt dort auf dem Wasser einen Seelenverwandten, einen Zönobiten. Es hatte nichts mit religiöser Einkehr zu tun, doch waren sie beide allein an einem Ort, wo sie nicht allein sein sollten. Außerdem hatten sie beide sich hier draußen einem Wetter ausgesetzt, das ihrem Unterfangen unangemessen war. Der Regen – und es bestand kein Zweifel daran, dass es bald anfangen würde zu regnen – würde den Wanderweg entlang der Küste gefährlich aufweichen. Und auch der Surfer hätte sich angesichts der freiliegenden Riffs die Frage stellen müssen, wieso er sich dort draußen überhaupt herumtrieb.
    Doch der Wanderer hatte wenig Interesse daran, die Antwort auf diese Frage zu finden. Nachdem er sein karges Mahl beendet hatte, nahm er seinen Weg wieder auf. Hier waren die Klippen bröckelig, ganz anders als dort, wo er seinen Weg begonnen hatte. Dort hatten sie großteils aus Granit bestanden, aus Eruptivgestein, das vulkanische Kräfte zwischen Lava, Kalkstein und Schiefer emporgepresst hatten. Und obwohl Zeit, Wetter und die rastlose See daran nagten, waren die Klippen massiv, sodass ein Wanderer sich bis an die Kante wagen konnte, um übers Wasser zu blicken oder die Möwen zu beobachten, die Landeplätze in den Felsspalten suchten. Hier jedoch bestanden sie aus Weichgestein: Schiefer und Sandstein, und am Fuß der Klippen häuften sich die Gesteinsbrocken, die immer wieder von den Kanten brachen. Wenn man sich zu nah an den Rand wagte, riskierte man abzustürzen; und womöglich riskierte man sogar den Tod.
    Schließlich erreichte er den Punkt, wo sich entlang der Klippe eine Ebene von gut einhundert Metern erstreckte. Ein Pfad führte weg von der See, war an einer Seite von Ginster und Grasnelken begrenzt, an der anderen von einem Zaun, der eine Weide einfriedete. Der Wanderer stemmte sich gegen den Wind und ging weiter. Seine Kehle war inzwischen völlig ausgetrocknet, und hinter den Augen hämmerte ein dumpfer Kopfschmerz. Als er das Ende des Plateaus erreichte, überkam ihn heftiger Schwindel. Wassermangel, dachte er. Er würde nicht mehr allzu weit gehen können, ohne etwas dagegen zu tun.
    Ein Zauntritt markierte den Übergang zur Weide. Er setzte an hinüberzuklettern, musste jedoch innehalten, bis die Welt für einen Moment aufhörte, sich zu drehen – gerade lange genug, dass er den Abstieg zur nächsten Bucht finden konnte. Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie viele solcher Buchten er auf seiner Wanderung bereits passiert hatte. Und er hatte auch keine Ahnung, wie diese oder die anderen zuvor hießen.
    Als der Schwindel nachließ, hob er den Blick und entdeckte ein einsames Cottage am Rand der Wiese, die sich vor ihm erstreckte. Es stand keine zweihundert Meter von der Klippe entfernt am Ufer eines mäandrierenden Baches. Und es verhieß Trinkwasser.
    Noch während er den Zauntritt überwand, trafen ihn die ersten Regentropfen, und er schlüpfte aus den Gurten des Rucksacks und fischte seine Kappe hervor. Er zog sie tief in die Stirn – eine alte Baseballmütze seines Bruders mit der Aufschrift ›Mariners‹ –, als er aus dem
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