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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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er die vertrauten Formen um sich herum, als dass er sie sieht: das hohe rechteckige Fenster, den kleinen Ofen, die baumelnde Glühbirne.
    Es muss spät sein, die Sonne steht schon hoch. Nach allem, was geschehen ist, scheint es erstaunlich, dass die Sonne immer noch aufgeht. Er ist nicht mehr der Mensch, der er vor einem Jahr war, und auch die Stadt hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Aber der Sommer, in all seiner ungepflegten grünen Fülle, ist der alte, und die Steinmauern und Straßen – gleich wie ramponiert – haben seine Hitze aufgesogen wie eh und je.
    Er steht auf und reckt sich, seine Wirbelsäule knackt, und die Schultern lockern sich. Sobald er die Brille aufgesetzt hat, schnellt das Zimmer in Habachtstellung. Mit äußerster Klarheit, als sähe er alles zum ersten Mal, nimmt er den Stuhl mit der geraden Lehne wahr, die rechten Winkel des Fensters, die dicke Partitur auf dem Fenstersims.
    Die Straße unterhalb des Fensters ist ruhig und leer, doch er sieht sie dort immer noch gehen, an den kaputten Häusern entlang, die Welt verwandelnd. Wenn er die Augen schließt, fühlen seine Finger die glatte, kühle Haut ihres Gesichts. Der Ofen hinter ihm ist jetzt zu einem kleinenWärmefleck geworden, einer züngelnden blauen Flamme, und laut blubbernd kommt das Wasser zum Kochen.
    Später, nachdem er starken ungesüßten Tee getrunken und Schwarzbrot gegessen hat, wird er den Papierstapel noch einmal durchlesen, mit den Augen hören, die Hände in der Luft bewegen, etwas formen, was für andere unsichtbar ist. Wenn der Tag schön bleibt und es keinen Fliegeralarm gibt, wird er am Kanal entlangspazieren, nur ein paar Brücken weit, und dann wieder zurück. Es ist wichtig, in den Stunden davor keine anderen Menschen zu treffen oder zu sprechen.
    Noch später wird er den Newski-Prospekt bis zur Philharmonie hinuntergehen, durch einen Hintereingang hineinschleichen und sich in einem kleinen einfenstrigen Raum einschließen. Kurz vor achtzehn Uhr wird er sein weißes Hemd anziehen (nicht so perfekt gebügelt, wie er es gern hätte, aber sauber) und um des seltsamen Erlebnisses willen, sich selbst sprechen zu hören, das Radio einschalten. »Genossen«, verkündet seine knisternde Stimme, »in wenigen Minuten findet in Leningrad ein großes kulturelles Ereignis statt. Sie werden gleich, in unmittelbarer Übertragung, zum ersten Mal die Siebente Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, unserem herausragenden Mitbürger, hören.« Er bindet sich die fadenscheinige Krawatte um den Hals, zieht das Jackett an und steckt ein gefaltetes Stück Papier in seine Brusttasche. Während er sich räuspert, verpasst er ein paar Sätze seiner ersten, vorher aufgezeichneten Rundfunkansprache.
    Er öffnet die Tür und geht sicheren Schrittes einen schmalen Flur entlang, lässt sein Rundfunk-Ich hinter sich, das weiter zur Stadt Leningrad spricht. Das heißt: zu jenem Teil Leningrads, der nicht im Zuschauerraum auf ihn wartet, Reihe um Reihe, bis in den hintersten Winkel des Saals. »Europa hat geglaubt, die Tage Leningrads seien vorüber«, sagt die Stimme hinter ihm. »Aber dieses Konzertgibt Zeugnis von unserem Geist und Mut. Hören Sie!«
    In den Kulissen bleibt er stehen und spitzt selbst die Ohren. Was hört er in diesem Augenblick? Stühlescharren, leise gezupfte Geigensaiten, das schnelle Arpeggio einer Klarinette, und jenseits davon raschelnde Kleider, ein Hin- und Herrücken, Gehuste und Gemurmel, die Geräusche gespannter Erwartung. Wenn er ein wenig den Hals reckt, kann er eine Reihe von Mikrofonen sehen, die wie Kanonen auf die Bühne gerichtet sind, bereit, die Leningrader Sinfonie aufzufangen und in alle Welt zu übertragen.
    Er holt tief Luft und tritt in das gleißende elektrische Licht, das viel heller ist als jede Sonne. Auf dem Rücken bricht ihm der Schweiß aus, das Orchester steht auf und mit ihm das Publikum, eine dunkle, von militärischen Abzeichen und Medaillen und auch von Perlen glitzernde Menge.
    Gleich wird sich das nervöse Flattern legen, werden die Musiker vor Konzentration ruhig, Rücken kerzengerade, Finger in Position, Bogen und Mundstücke angehoben – und auch ihre Blicke heben sich zu ihm. Einen vollendeten Moment lang steht er da, am Rand der Stille balancierend. Das einzige Geräusch kommt von dem Telegramm in seiner Brusttasche, das raschelt, wenn er atmet, und sich stetig bewegt wie ein schlagendes Herz.

Danksagungen
    Zahlreiche Bücher und Artikel über Schostakowitsch und die
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