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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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glauben.« Sie berichtete Elias, was sie über Schostakowitschs Reise gen Osten gehört hatte: das lange Warten, bevor er den überfüllten Zug nach Kuibyschew besteigen konnte, in einer Hand eine Nähmaschine, in der anderen Maxims Teddybär. Sieben Tage und sieben Nächte in einem brechend vollen Waggon, verlorene Koffer, geliehene Socken und Unterwäsche. In seinem alten abgetragenen Anzug sei Schostakowitsch durch den Schnee neben den Gleisen gewatet, um Geschirr abzuspülen und Wasser aus Bahnhofsgebäuden zu holen, zu schüchtern, um Gespräche anzufangen, zu stolz, um sich helfen zu lassen, in einem Zustand dauernder Erregung.
    »Anscheinend sind sie in Kuibyschew ausgestiegen«, erklärte Nina, »weil er den Mangel an Privatsphäre nicht länger ertragen konnte. Sie sollten eigentlich bis Swerdlowsk fahren.«
    »Schostakowitsch und schüchtern? Aber er ist dochsonst immer so direkt, beinahe grob! Und so hoch angesehen. Er ist schon jetzt eine Legende.«
    »Er ist ein großer Komponist. Und vielleicht wird er einmal zu einer Legende. Aber in diesem Fall hat er seinen Teil der Aufgabe erledigt, und nun bist du an der Reihe. Was er darüber denkt, ist vielleicht weniger wichtig, als du meinst.«
    Sie lagen nebeneinander und beobachteten, wie das goldene Abendlicht sich über die Wand ausbreitete. Von der anderen Seite der Stadt kam das ferne Heulen von Sirenen, sonst war alles still. Endlich nahm Elias seinen Mut zusammen, richtete sich auf und legte etwas ungelenk den Arm um Nina. Er spürte ihre Knochen durch die wollene Kleidung, ihr Brustkorb war so zart wie der eines Vogels. Doch in ihrem Innersten war die Kraft, die er schon bei ihrer ersten Begegnung gespürt hatte, immer noch da.
    »Machst du dir nie über irgendetwas Sorgen?«, fragte er sanft. »Du wirkst, als wären für dich alle Probleme gelöst.«
    Nina lachte. »Wenn du wüsstest, wie ich mich heute gefühlt habe! Als ich das letzte Mal in der Philharmonie war, habe ich eine Aufführung von Mahlers Fünfter gehört. Ich kam an jenem Abend in den Saal, und die Leute haben zu mir hingeschaut. Ich galt damals als schön.« Sie schloss die Augen, aber eine Träne glitt über ihre Wange und versickerte im Kissen.
    »Du bist immer noch schön«, sagte Elias. »Schöner denn je. Verwirrend schön. Du verwirrst mich.« Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn, weder zögerlich noch nervös, verharrte mit den Lippen an ihrer Schläfe und fühlte ihren ruhigen Puls.
    »Ich könnte dein Herz dirigieren«, flüsterte er. »Es schlägt so gleichmäßig wie ein Metronom.«
    Langsam öffnete Nina die Augen und sah ihn an. »Und deines? Ist es konstant?«
    »Manche meinen, ich hätte gar kein Herz. Viele sogar. Das hast du doch sicher auch schon gehört?«
    Sie ließ ihre Hand unter seine Jacke und sein Hemd gleiten und legte ihm die Handfläche flach auf die Brust. »Wie solltest du wohl das tun können, was du tust, wenn du kein Herz hättest?«
    Als das letzte Sonnenlicht aus dem Zimmer gewichen und der Himmel grau geworden war, stand sie vom Sofa auf. »Bis morgen«, sagte sie, küsste ihn leicht auf die Lippen und winkte ab, als er anbot, sie nach Hause zu bringen.
    Er hielt ihr die Tür auf, stand da, bis er ihre ungleichmäßigen Schritte im Treppenhaus nicht mehr hörte, und trat ans Fenster.
    Sie war schon auf der Straße, schritt vorsichtig durch Schutt und Geröll, und ihr Haar glänzte wie die Flügel einer Schwalbe. Er kannte sie und kannte sie noch nicht. Er sah, wie ihre schlanke, aufrechte Gestalt die Straßenecke erreichte. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, wusste er so sicher, wie er noch nie zuvor etwas gewusst hatte, dass sie eines Tages seine Frau sein würde.
    Jetzt war er allein, aber nicht einsam, und er nahm die säuberlich gefaltete Nachricht, die auf dem Fensterbrett lag, in die Hand. Er kannte sie auswendig.
    Lieber Karl Eliasberg. Meine besten Wünsche für die Leningrader Premiere. Bedaure zutiefst, nicht dabei sein zu können. Bin überzeugt, die Aufführung wird FABELHAFT. Grüße Sie herzlich.
    D. Schostakowitsch.
    Er lehnte den Kopf an die gesprungene Scheibe. »Du schaffst es«, sagte er und faltete das Telegramm wieder zusammen. Die Kälte des Glases drang ihm in den Kopf und breitete sich in seinem Körper aus. Sie fühlte sich wie Kraft an.

Epilog
    Als die Sonne den Rand seiner Matratze berührt, schlägt er die Augen auf. Schlafstaub behindert seine Sicht, das Zimmer ist verschwommen. Mehr spürt
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