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Diktator

Diktator

Titel: Diktator
Autoren: Stephen Baxter
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Leitstern am klaren Himmel. Mary orientierte sich an ihr und fuhr einfach weiter nach Süden. Es war schließlich kein so großes Land, und irgendwann musste sie an die Küste gelangen.
    Mittlerweile war dieser erste Junitag außerordentlich schön, einer jener frühen Sommertage, die England einem so leichthändig servierte. Über einem zerknautschten grünen Teppich aus Feldern und Hecken stiegen die Vögel wie Spitfires in die Luft. Es ergab
keinen Sinn, dachte Mary. Wie konnte all dies zugleich mit den Schrecknissen des Krieges in Europa existieren, die sich nur ein paar Dutzend Meilen entfernt entfalteten? Entweder war der Krieg nicht real, oder der Sommertag war es nicht; sie passten nicht ins selbe Universum.
    Sobald sie die letzten Binnenstädte hinter sich gelassen hatte und sich der Küste näherte, traten die Zeichen des Krieges deutlicher zutage. An den Kreuzungen standen MG-Unterstände, einige so neu, dass man den noch feuchten Beton glänzen sah. Sie war jedes Mal nervös, wenn sie eine Brücke überquerte, denn die Home Guard – Veteranen des Weltkriegs 14/18 und Jugendliche, die noch nicht alt genug waren für den Kriegsdienst – verminte die Brücken, und wer wusste schon, ob sie mit hochexplosiven Sprengstoffen umgehen konnten oder nicht.
    Als sie dann nah genug war, um von höher gelegenem Gelände aus einen Blick aufs Meer zu erhaschen, wurde der Verkehr lebhafter. Die meisten Fahrzeuge fuhren in die Gegenrichtung, landeinwärts, ein steter Strom von Privatwagen, ganze Familien mit Mutter, Vater, Kindern, Hund und dem Wellensittich in seinem Käfig, und auf den Dachgepäckträgern türmten sich Koffer und sogar Möbelstücke. Trotz der offiziellen Anordnungen, »an Ort und Stelle zu bleiben«, wie Mary den neuen Premierminister Winston Churchill auf BBC hatte sagen hören, entleerten sich ganze Städte nordwärts, weil die Menschen sich in Sicherheit zu bringen versuchten. Unter den fliehenden Engländern
waren auch Flüchtlinge, die von viel weiter her kommen mussten, Busse und Lastwagen voller Zivilisten, Frauen, Kinder, alte Leute und vereinzelt auch Männer in waffenfähigem Alter. Dicht gedrängt, schmutzig und erschöpft starrten sie auf die funkelnde englische Landschaft hinaus, während sie vorbeifuhren.
    An einer Kreuzung gab es einen Stau. Ein Armeelaster hatte einen Reifen verloren, und ein paar Soldaten mühten sich ab, einen neuen aufzuziehen. Die Soldaten hatten sich in der Hitze der Sommersonne bis auf ihre Khakihemden ausgezogen, und während sie mit den schweren Rädern kämpften, schwatzten und lachten sie miteinander, und Zigaretten baumelten von ihren Lippen. Der Verkehr musste sich langsam vorbeischieben; die vollgeladenen Busse und Lastwagen holperten übers Bankett.
    Mary stand auf einmal einem Bus gegenüber, der seinem Schild zufolge nach Bexhill und Boreham Street fuhr. Sie schaute einem kleinen Jungen in die Augen, der auf dem Schoß einer Frau saß, vermutlich seine Mutter. Er war vielleicht acht oder neun Jahre alt. Sein Haar war verstrubbelt, der Schmutz in seinem Gesicht von getrockneten Tränen gestreift. Er schien einen Schulblazer zu tragen, aber die Farbe war seltsam – leuchtendes Orange, nicht wie in England üblich. Er sagte etwas, aber sie konnte es ihm nicht von den Lippen ablesen. Womöglich sprach er ja Französisch, Holländisch oder Wallonisch – vielleicht sogar Deutsch.
    »Willkommen in England«, formte sie mit den Lippen.

II
    Schließlich erreichte sie eine Küstenstadt. Aber welche?
    Sie folgte einem Bahngleis bis zu einem kleinen Bahnhof. Keine Namensschilder. Dort stand ein Zug bereit, der offenkundig für Soldaten reserviert war; jemand hatte WILLKOMMEN DAHEIM BEF an einen Waggon geschrieben. Es war durchaus sinnvoll, die zurückgekehrten Soldaten so schnell wie möglich ins Landesinnere zu bringen, weg von den Gefahren der Küste. Aber es waren keine Soldaten da, die weggebracht werden konnten; der Zug stand nutzlos herum.
    Sie gelangte zu einer Straße, die am Meer entlangführte, bog links ab und folgte der Küste. Zu ihrer Rechten lag die See, stahlgrau und ruhig, mit schimmernden Glanzlichtern, übersät von Booten. Es herrschte Ebbe, und sie sah einen steinigen, mit Stacheldrahtknäueln und großen Betonquadern bedeckten Kiesstrand. Diese Küstenbefestigungen waren nur die äußere Kruste eines ganzen Landes, das sich in eine Festung verwandelte; die Küstenlinie wurde auf einer Länge von vielen hundert Kilometern verstärkt, und
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