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Diktator

Diktator

Titel: Diktator
Autoren: Stephen Baxter
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ausgeklügelte Abwehrsysteme erstreckten sich bis tief
ins Landesinnere hinein. So weit sie sehen konnte, ging der Strand immer weiter; vor ihr, im Osten, krümmte er sich sanft in eine Bucht. In Hastings gab es einen Hafen, aber hier nicht; sie war also nicht in Hastings.
    Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Sie war ohne Pause von London bis hierher gefahren. Ihre Knochen waren steif, sie hatte Durst, und da sie wenig geschlafen hatte, war sie zum Umfallen müde.
    Sie stellte den Wagen an der Strandseite der Straße ab und stieg aus. Es war gegen Mittag. Das Sonnenlicht, die salzige Meeresluft wirkten auf sie wie ein starker Gin. Auf der Küstenstraße herrschte reger Verkehr, und sie sah eine Vielzahl der Uniformen, die sie bereits aus London gewohnt war – das Khaki der Army, das Dunkelblau der Navy, das hellere Schieferblau der Air Force, und Frauen in den Uniformen des Auxiliary Territorial Service, des Heimatschutzdienstes, oder der Wrens, des weiblichen Marinedienstes.
    Sie ging ein Stück am Strand entlang. Verbotsschilder untersagten Zivilisten, den Strand zu betreten, und warnten, dass der Kies vermint sei. Und wenn sie an diesem strahlenden Sommertag aufs Meer hinausschaute, konnte sie tatsächlich den Krieg in Europa sehen, das Aufblitzen herabstoßender Flugzeuge, und sie hörte auch fernen Geschützdonner. Weit weg stieg eine Rauchwolke turmhoch empor. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich im Geist Notizen für ihren nächsten Artikel machte. Seit dem Tag der Kriegserklärung im vergangenen September hatte sie sich kaum aus London herausgewagt. Sie versuchte sich vorzustellen, wie
sich diese Szene in ihrer Heimat abspielte, an einer auf ähnliche Weise befestigten Atlantikküste.
    Die Evakuierung ging indessen weiter voran. Im tieferen Wasser glitten Schiffe der Navy dahin, blaugraue Silhouetten, während kleinere Schiffe pausenlos zwischen England und Frankreich hin und her fuhren, Trawler, Drifter, Garnelen- und Krabbenfänger, Fischkutter, ein paar Rettungsboote sowie viele Jachten und kleine Motorboote. Große, mit dem Namenszug »Pickfords« geschmückte Lastkähne, deren eigentliche Aufgabe darin bestand, Fracht an der Küste entlang zu befördern, wälzten sich schwerfällig dahin. Ein Teil des Strandes war geräumt worden, damit die Boote landen konnten; man hatte den Stacheldraht zerschnitten und weggezogen und die Panzersperren beiseite geschoben. Mary sah, dass Trupps mit Tragbahren auf dem Kies warteten, und der WVS, der Women’s Voluntary Service, hatte Tische mit Union-Jack-Fähnchen und Schildern aufgestellt, auf denen WILLKOMMEN DAHEIM, JUNGS stand. Tee kochte in riesigen Teemaschinen, und Sandwiches stapelten sich auf Platten. Aber niemand trank den Tee, niemand aß die Sandwiches.
    Dies war Operation Dynamo, die Evakuierung aus Frankreich. Die BBC hatte das Thema die ganze Nacht hochgespielt, die kleinen Schiffe Englands, die nach Frankreich fuhren, um der Navy zu helfen, eine besiegte Armee heimzuholen. Erschreckenderweise kamen die kleinen Schiffe jedoch leer zurück.
    »Sie können hier nicht parken, Madam.« Mary
drehte sich um. Ein ziemlich junger Mann mit einer schweren schwarzen Jacke und einem Tellerhelm, der wie ein Überbleibsel aus dem Weltkrieg 14/18 aussah. Er trug ein Gewehr, einen Segeltuchbeutel mit einer Gasmaske über der Schulter und eine Armbinde, in die »ARP« eingestickt war. Air Raid Precautions, der Luftschutz, noch eine der neuen Freiwilligentruppen Großbritanniens. »Wir versuchen, die Strände und den Weg in die Stadt freizuhalten.«
    »Ja, das sehe ich. Tut mir leid. Hören Sie …«
    »Und Sie sollten Ihre Gasmaske dabeihaben.«
    »Die liegt im Wagen.«
    »Laut Vorschrift muss man sie immer bei sich tragen.« Er sprach ein neutrales Englisch, wie sie fand, und klang recht gebildet. Nun musterte er sie eingehender, mit misstrauischer Miene. »Darf ich fragen, was Sie hier machen? Sie scheinen sich verfahren zu haben.«
    »Ich möchte nach Hastings. Mein Sohn kommt mit der BEF nach Hause, das hoffe ich wenigstens.«
    »Und Sie wissen nicht, wo Hastings ist?«
    Sie versuchte sich zu beherrschen. »Ich weiß nicht mal, wo ich bin. Hören Sie, wenn Sie mir einfach den Weg nach Hastings zeigen könnten …«
    »Woher kommen Sie? Aus Kanada? Ich weiß, dass es kanadische Einheiten bei der BEF gibt.«
    »Nein, ich bin Amerikanerin. Den Fehler macht man leicht.«
    Seine Augen wurden schmal, und er trat auf sie zu. Er hinkte ein wenig; vielleicht hatte
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