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Diese eine Woche im November (German Edition)

Diese eine Woche im November (German Edition)

Titel: Diese eine Woche im November (German Edition)
Autoren: Michael Wallner
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greift nach der Krücke und hievt sich hoch. Plötzlich wird ihm schwarz vor Augen. Er sinkt zurück. Er möchte Uhla so gern noch einmal wiedersehen. Doch nicht ihr Bild ersteht vor ihm. Mit geschlossenen Augen sieht Rinaldo einen schwarzhaarigen Jungen über eine Brücke springen. Er entdeckt ein Mädchen am anderen Ufer. Zu zweit verschwinden sie in den engen Gassen. Rinaldo hebt die Hand, als ob er dem Jungen zuwinken würde. In all den Jahren in der Lagunenstadt war Tonio sein einziger wahrer Freund.
    » Signore? « , sagt eine mütterliche Stimme. » Signore, geht es Ihnen nicht gut? «
    Rinaldos Kopf ist zur Seite gesunken. Sein Mund steht offen.
    » Er bewegt sich nicht « , sagt die Stimme.
    » Atmet er? « , fragt eine andere.
    » Am besten, ich rufe einen Arzt. «
    » Wozu? « Schlagartig öffnet der Weißhaarige die Augen. » Mir geht es blendend. Ich fliege nach Helsinki. «
    » Helsinki? « Eine kräftige Flugbegleiterin steht vor ihm. » Dann sollten Sie jetzt einsteigen, Signore. «
    Er greift nach der Krücke.
    » Ich helfe Ihnen. « Sie reicht ihm den Arm und nimmt seine Tasche.
    » Hier entlang. Es ist nicht weit. «
    Zusammen betreten sie den Tunnel.

44

    I m Krankenhaus hat man Pippa etwas mitgegeben, falls ihr wieder schwindelig werden sollte. Außerdem die üblichen Ratschläge, die nie schaden – Ruhe, frische Luft und viel trinken. Die Wahrheit ist, das Krankenhaus braucht Pippas Bett. Wegen so ein bisschen Rauchgas kann man sie nicht länger stationär behandeln.
    Noch schwach auf den Beinen, verlässt sie das Ospedale San Raffaele und weiß nicht, wohin sie soll. Solange sie im Bett lag, war die Vorstellung, dass von nun an alles anders wird, nur ein Gedankenspiel. Jetzt steht sie in der Mittagssonne und es ist alles anders. Die Helligkeit gibt Pippa keine Zuversicht, sie macht ihr Angst. Was ist das eigentlich – ihr Leben? Ein fragwürdiger Job, mit dem sie schon lange aufhören will, ein Onkel im Rollstuhl und eine unglückliche Liebe. Nicht gerade berauschend für eine Sechzehnjährige. Der alte Spruch – Du hast ja noch dein ganzes Leben vor dir – ist eher frustrierend als ermunternd.
    Tonio ist nicht gekommen. So richtig verabredet waren sie ja auch nicht. Woher soll er wissen, dass Pippa vorzeitig entlassen wird? Trotzdem wäre es schön gewesen. Planlos läuft sie zu der Basilika am Ende des Platzes und setzt sich auf eins der Postamente. Vor ihr liegt die Uferpromenade, in ihrem Rücken weiß sie das Meer. Eigentlich könnte man mal riskieren, in so eine Kirche reinzugehen, weshalb sollen nur die Touristen etwas davon haben?
    Durch eine Nebentür tritt Pippa ein. Das Dämmerlicht tut gut. Die Marmorquader ergeben ein rot-weißes Schachbrett auf dem Boden. Die Decke ist aus Holz. Zu beiden Seiten Säulengänge, rechts befindet sich wahrscheinlich eine Sehenswürdigkeit, sonst stünden dort nicht so viele Japaner.
    Pippa weiß eigentlich nicht genau, wie sie zur Religion steht. In ihrer Kindheit war keiner da, der sie dazu erzogen hätte. Der kranke Onkel flucht häufig, das ist seine Art, mit Gott zu reden. Pippa kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gebetet hat. Vielleicht ist heute der richtige Tag, denkt sie und kniet vor einem Bild nieder. Weder Gott noch Jesus sind darauf zu sehen, stattdessen ein kleines Mädchen, das eine Treppe hochläuft. Das Kind hat einen Heiligenschein. Zu einem Mädchen kann ich nicht beten, denkt Pippa. Trotzdem zündet sie eine Kerze an und wirft Geld in den Opferstock.
    » Ich mag nicht länger unglücklich sein « , sagt sie. » Gibt es keinen Weg, das abzuschalten? Man kann ein Gefühl nicht einfach abschalten « , antwortet sie sich selbst. » Es ist da. Und meins ist schon so lange da. «
    Sie betrachtet das Bild genauer. Die Treppe, die das Mädchen hochläuft, führt zu einem Ehrfurcht einflößenden Gebäude. Oben erwarten sie Männer in Priesterroben. Sie sehen nicht besonders freundlich aus.
    » Tonio hat sich aus Liebe in ein Riesenabenteuer gestürzt « , fährt Pippa fort. » Ich war so blöd, mich mit hineinzustürzen. Was hat es mir gebracht? Dass meine Lungen beim Atmen komische Geräusche machen und ich mir mein versengtes Haar abschneiden musste. «
    Pippa liest das Schild unter dem Gemälde: Mariä Tempelgang, Tizian hat es gemalt.
    » Wenn du die Maria bist, die Muttergottes « , sagt Pippa, » dann habe ich eine Bitte an dich. Nimm diese Liebe von meinen Schultern. Lass mich Tonio wieder als den normalen
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