Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman
Autoren: Richard Russo
Vom Netzwerk:
ansehen«, fuhr seine Mutter fort. »Es ist jedenfalls nicht das, was wir gedacht hatten.«
    »Was hatten wir denn gedacht, Mom?«
    »Dass es nett ist«, sagte sie. »Wir hatten gedacht, es würde nett sein.«
    Sie verstummte, und die Leitung war tot. Aus Erfahrung wusste er, dass dieses Gespräch ein Schuss vor den Bug gewesen war. Und seine Mutter war auf ihre Weise rücksichtsvoll. Sie hatte ihn noch nie im letzten Monat des Semesters behelligt. Als altgediente Akademikerin wusste sie, wie diese letzten Wochen waren, und verschonte ihn. Danach aber war alles wie sonst. Vermutlich hatte sie – das Timing ihres heutigen Anrufs deutete darauf hin – die Website seines Colleges besucht und wusste, dass sein letztes Seminar vorüber war. Dass es ein Fehler war, ihr zum Geburtstag einen Laptop zu schenken, hatte er schon beim Kauf gewusst, aber im vorigen Heim hatte man ihr vorgeworfen, sie habe ständig den Computer mit Beschlag belegt. Sowie auch einige der männlichen Senioren, eine Behauptung, die sie vom Tisch wischte. »Sieh dir die doch an«, schnaubte sie. »So viel Viagra gibt’s in ganz Kanada nicht.« Obgleich sie, als wollte sie einer intensiven Befragung zu diesem Thema zuvorkommen, zugab, dass es in diesen Altersheimen mehr Sex gab, als man dachte. Viel  mehr Sex.
    Es war möglich, dass sie tatsächlich Bücher aus der Sterling Library brauchte. Sie war dreiundachtzig und ließ körperlich nach, doch ihr Geist war noch immer klar und wach, und sie behauptete, Recherchen für ein Buch über eine der Brontë-Schwestern anzustellen. (»Du erinnerst dich doch an Bücher? Gebundenes Papier? Viele, viele Seiten? Und Zeilen, die bis an den Rand gehen?«) Er nahm sich vor, ihre Liste durchzugehen und nachzusehen, was es in der Bibliothek seines eigenen Colleges gab.
    Als ein Sattelschlepper vorbeidonnerte, bemerkte Griffin einen üblen Geruch und fragte sich, was da durch die Gegend gefahren wurde. Erst als er den Zündschlüssel drehte, sah er den dickflüssigen weißen Fleck auf seinem Hemdärmel. Die Möwe hatte auf ihn geschissen!
    Seine Mutter hatte ihn zu einem unbewegten Ziel gemacht, und das war dabei herausgekommen.

2
    SCHIEFE EBENE
    Als seine Eltern sich scheiden ließen und beide behaupteten, sie hätten einander schon zu lange unglücklich gemacht und sich schon viel früher trennen sollen, war Griffin auf der Filmhochschule im Westen und dachte, es sei wahrscheinlich am besten so. Aber keiner von beiden war in der zweiten Ehe aufgeblüht, und auch ihre Karrieren nahmen Schaden. Geeint – jedenfalls im Abstimmungsverhalten – waren sie am Lehrstuhl für Englisch eine nicht zu unterschätzende Größe gewesen, doch getrennt und oft gegeneinander stimmend durfte man sie getrost ignorieren, und ihre schlimmsten Feinde konnten sie ungestraft aufs Korn nehmen. Seiner Mutter schien es anfangs besser zu gehen als seinem Vater. Während ihrer Ehe war sie den jungen Literaturtheoretikern und Kulturkritikern mit unverhohlener Verachtung begegnet, doch nun erfand sie sich neu, wurde Spezialistin für Geschlechterforschung und war eine Zeit lang der Liebling der nachrückenden Generation. Patricia Highsmith, eine ihrer »verbotenen Freuden«, war inzwischen geachtet, und seine Mutter veröffentlichte einige gut platzierte Artikel über sie und zwei, drei andere schwule oder lesbische Autoren und Autorinnen. Podiumsdiskussionen zu Geschlechterfragen waren mit einem Mal große Mode, und in einigen davon führte sie bei regionalen Konferenzen den Vorsitz, wobei sie ihrem großen und größtenteils lesbischen Publikum zu verstehen gab, sie selbst sei, was ihre Sexualität betreffe, ihr Leben lang in Theorie und Praxis nach allen Seiten offen gewesen. Und vielleicht, dachte er, stimmte das ja auch. Bartleby, der zu Beginn ihrer Ehe lieber nicht mit ihr stritt und gegen Ende lieber gar nichts mehr sagte, bewahrte, als man ihm diese Anspielungen hinterbrachte, seine philosophische Ruhe. Griffin hatte angenommen, dass seine Mutter die Abkehr ihres zweiten Mannes von der gesprochenen Sprache übertrieben hatte, doch einige Monate vor seinem unerwarteten Tod (auch zum Arzt zu gehen, war etwas, das Bartleby lieber nicht tat) stattete er den beiden einen kurzen Besuch ab und führte sie zum Essen aus, und die ganze Zeit über sagte der Mann kein einziges Wort. Er schien nicht schlecht gelaunt und lächelte gelegentlich wehmütig über irgendetwas, das seine Frau oder Griffin sagten, aber seine einzige Äußerung, wenn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher