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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman
Autoren: Richard Russo
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neunundzwanzig, erwachsen (selbst nach den Maßstäben einer amerikanischen Universität) und brauchte ganz sicher nicht den Schutz der Institution – wogegen sich einige ihrer Professoren fragten, wer sie vor ihr beschützen würde. Was Claudia nach Meinung vieler aber tatsächlich brauchte, war Hilfe, viel Hilfe bei ihrem Abschluss. Sie bestand die Vorprüfung nur knapp im zweiten und letzten Anlauf – einer der Prüfer enthielt sich der Stimme –, und dann brauchte sie ein ganzes Studienjahr, um ein akzeptables Dissertationsthema vorzulegen. Wie eine Färse auf einer Landwirtschaftsausstellung wurde sie (von Griffins Vater) Schritt für Schritt durch diese Prozedur geführt. Irgendetwas an ihr erinnerte Griffin tatsächlich an eine Kuh. Sie war einen ganzen Kopf größer als sein Vater, hatte breite Hüften und volle Brüste, die unter den von ihr bevorzugten weiten Blusen stets in Bewegung zu sein schienen.
    Und so geschah es, dass dieser hervorragende Professor eines Morgens erwachte und erkannte, dass seine Exfrau sich in eine abenteuerlustige Geschlechterspezialistin verwandelt hatte, während aus ihm selbst ein Narr geworden war. Naked Lunch , bemerkte Griffins Mutter, hatte schließlich gesiegt und den armen Jeeves vor die Tür gesetzt. Vielleicht war das der Grund, warum Griffins Vater freudig zusagte, als ein alter Studienfreund, mittlerweile Dekan der Universität von Massachusetts, ihn anrief und fragte, ob er daran interessiert sei, für ein Jahr die Vertretung eines kranken Kollegen zu übernehmen. Griffins Mutter schäumte natürlich vor Wut, als sie das hörte. Immerhin brauchte man von Amherst zum Cape nur etwa zwei Stunden. Er und die fette Kuh würden die Wochenenden dort verbringen können, vielleicht sogar in Vineyard oder Nantucket, während sie in Gesellschaft eines Stummen im Scheiß-Mittelwesten saß. Aber sie konnte es nicht verhindern, was sie allerdings erst merkte, nachdem sie es, laut seinem Vater, sehr  intensiv versucht hatte.
    Er und Claudia blieben ein ganzes Jahr im Osten und kehrten erst im allerletzten Moment, nämlich am ersten Wochenende im September, an die Universität zurück. Griffin steckte gerade zwischen zwei Drehbüchern und flog für ein paar Tage nach Indiana. Er hatte seinen Vater nicht in Amherst besucht und stellte fest, dass dieser aussah, als hätte er die ganze Zeit auf einer Station für Tuberkulosekranke verbracht. Er schien um gut zehn Jahre gealtert. Er war immer schlank und schmalbrüstig gewesen, doch jetzt war er mager, seine Wangen waren eingefallen, und sein Haar war schütter. Anscheinend als Ausgleich trug er es an den Seiten und hinten lang, was ihm das Aussehen eines Totengräbers aus einem Dickens-Roman verlieh. Im Gegensatz zu ihm war Claudia eher noch draller geworden. Während Griffins kurzem Aufenthalt fand sie des öfteren Gelegenheit, ihren üppigen Körper in seiner unmittelbaren Nähe zu platzieren und die frei schwingenden Brüste an seinen Arm oder, wenn er gerade saß, an seinen Hinterkopf zu legen – Gesten, die sein Vater nicht zu bemerken schien.
    Sie seien mit großartigen Neuigkeiten zurückgekehrt, verkündete sein Vater. Claudia habe ihre Dissertation abgeschlossen, und zur Feier hätten sie geheiratet. Dabei lächelte er tapfer, während Claudias Lächeln eher etwas Träges hatte. Diese Eheschließung müsse im Augenblick noch geheim gehalten werden, erklärte sein Vater, bis sie das Rigorosum überstanden und man ihr die Promotionsurkunde überreicht habe. Griffin war nicht sicher, ob er die hier waltende Logik verstand, doch da ihn das alles nichts anging, versprach er, niemandem etwas zu sagen, vor allem seiner Mutter nicht. Weswegen er recht überrascht war, als er sich mit ihr und Bart zum Mittagessen im Speisesaal der Fakultätsmitglieder traf und sie als Erstes sagte: »Und? Hat dein Vater dir erzählt, dass er geheiratet hat?«
    Tatsächlich war sie voller Informationen. Nein, sein Vater sei nicht krank, auch wenn er aussehe wie sein eigener Tod. Er sei vielmehr erschöpft, behauptete sie, und wer wäre das nicht? In dem Jahr an der Universität von Massachusetts habe er nicht nur alle möglichen Vorlesungen und Seminare gehalten, sondern auch für Claudias Dissertation geforscht und sie – man stelle sich vor – geschrieben . Als Griffin sie fragte, wie sie das wissen könne, da doch wohl weder sein Vater noch Claudia es irgendjemandem gesagt hätten, bedachte sie ihn nur mit einem mitleidigen Blick. »Und das ist
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