Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman
Autoren: Richard Russo
Vom Netzwerk:
sie in den letzten zwei Jahren in L.A. hatten schreiben müssen, bevor man Griffin diesen Collegejob angeboten hatte und er mit Joy und ihrer Tochter Laura in den Osten gezogen war. Überzeugt, dass er nicht nur das Ende des Films, sondern auch die Hälfte der Dialoge voraussagen konnte, war er noch vor der ersten Werbepause eingeschlafen.
    Um die gestrigen Fehler nicht zu wiederholen, beschloss er, den Tag in Schwung zu bringen, indem er die Rezeption anrief und seinen Wagen vorfahren ließ. Zwanzig Minuten später hatte er geduscht, sich angezogen und aus dem Hotel an der Back Bay ausgecheckt. Ganz Boston hatte in seinem Rückspiegel Platz, und als die Sagamore Bridge, eine der beiden Brücken über den Cape Cod Canal, in Sicht kam, zeigte sich im Osten ein Silberstreif am Horizont. Er spürte, dass die letzten Reste seines Zögerns und Zauderns von ihm wichen wie die Nebelschwaden, durch die er gefahren war, seit er die Stadt verlassen hatte. Der Bogen der Sagamore Bridge wölbte sich in der Mitte dramatisch empor und half der Sonne über den Horizont, und obwohl es viel zu kühl war, fuhr Griffin auf den Seitenstreifen, klappte das Cabrioverdeck auf und fühlte sich zum ersten Mal, seit er in Connecticut losgefahren war, frei und ungebunden. Es war irgendwie aufregend, nicht dort zu sein, wo seine Frau ihn vermutete. Sie wusste gern, was andere vorhatten, und das galt nicht nur für ihn. Meistens rief sie morgens Laura an, die dann noch vom Schlaf umflort war, und fragte sie: »Also … was machst du heute?« Sie telefonierte auch mehrmals pro Woche mit ihren beiden Schwestern und wusste, dass June morgen zum Friseur gehen wollte und dass Jane fünf Pfund zugenommen hatte und jetzt eine Diät machte. Sie wusste sogar, was für einen Unsinn ihre beiden idiotischen Zwillingsbrüder Jared und Jason gerade wieder ausheckten. Für Griffin, ein Einzelkind, war dieses Verhalten weit jenseits der Grenze, die das lediglich Unerklärliche vom wirklich Perversen trennte.
    Griffin brauste auf der Route 6 dahin und merkte, dass er »That Old Black Magic« vor sich hin summte, den Song, den seine Eltern jedes Mal, wenn sie über die Sagamore Bridge gefahren waren, voller Ironie gesungen und dabei »black« durch »Cape« ersetzt hatten – beide waren Universitätsprofessoren für englische Literatur gewesen und hatten das meiste, was sie taten und sagten, mit Ironie unterlegt. Daran, wo und wann sie Urlaub machten, hatte er immer ablesen können, wie das Jahr in finanzieller Hinsicht gewesen war. In einem besonders guten Jahr hatten sie für den ganzen August ein kleines Haus in Chatham gemietet, in einem anderen, in dem die Dozentengehälter eingefroren worden waren, hatte es nur für Sandwich im Juni gereicht. Seine Eltern waren weniger miteinander als vielmehr mit einem Gefühl der Erbitterung verheiratet gewesen, weil sie jedes Jahr elf Monate im Exil des »Scheiß-Mittelwestens« hatten verbringen müssen – ein Wort, das nicht ausgesprochen, sondern ausgespien wurde. Sie hatten gute akademische Karrieren gemacht, wenn auch nicht die kometenhaften, die man ihnen angesichts ihrer Abschlüsse an Eliteuniversitäten prophezeit hatte. Beide waren im Industriegebiet im Westen des Bundesstaates New York aufgewachsen – seine Mutter in einem Vorort von Rochester, sein Vater in Buffalo –, Kinder der unteren Mittelschicht, die Väter Angestellte. In Cornell, wo beide ein Stipendium hatten, lernten sie nicht nur einander kennen, sondern auch Freunde, die sie an Feiertagen zu ihren Familien in Westchester und Wellesley und in den Sommerferien in die Hamptons oder auf das Cape einluden. Sie sagten ihren Eltern, dass sie dort mit irgendwelchen Ferienjobs mehr Geld verdienen könnten, was ja auch stimmte, aber in Wirklichkeit hätten sie alles getan, um nicht in ihre deprimierenden Elternhäuser in der Provinz zurückkehren zu müssen. In Yale, wo sie ihr Hauptstudium absolviert hatten, waren sie zu der Überzeugung gekommen, dass sie für Forschungsprofessuren an einer der anderen berühmten Universitäten bestimmt waren. Doch dann hatte sich der Markt für Akademiker nach Süden verlagert und sie mussten nehmen, was sie kriegen konnten (wobei die Auswahl für Ehepaare noch kleiner war), und das war eine riesige staatliche Uni in Indiana gewesen.
    Betrogen. So fühlten sie sich. Warum in Cornell und Yale studieren, wenn der Lohn dafür Indiana war? Es blieb ihnen nicht viel anderes übrig, als sich damit abzufinden und das Beste
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher