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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman
Autoren: Richard Russo
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elterlichen Wagens, wo er einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte: nicht angeschnallt, die Unterarme auf die Rückenlehne der Vordersitze gelegt, bestrebt zu hören, was sie, die nie den Versuch machten, ihn in ihre Gespräche einzubeziehen, sagten. Er interessierte sich eigentlich gar nicht für das, was sie besprachen, spürte aber, dass dort vorn Entscheidungen getroffen wurden, die ihn betrafen, und er, wenn er von den im Entstehen begriffenen Plänen wusste, eine Meinung äußern konnte. Leider schien die Tatsache, dass er das Kinn auf seine Hände legte, eben dies zu verhindern. Das meiste von dem, was er hörte, war ohnehin nicht der Mühe wert. »Wellfleet«, sagte seine Mutter und sah in den Straßenatlas. »Warum haben wir es da noch nie probiert?« Als Griffin im ersten Jahr auf der High School war und sie ihren letzten gemeinsamen Sommerurlaub dort verbrachten, hatten sie schon praktisch überall auf dem Cape gewohnt. Jedes Mal, wenn sie dem Makler am Ende ihres Aufenthaltes den Schlüssel zurückgaben und er sie fragte, ob sie das Haus für den nächsten Sommer reservieren wollten, antworteten sie mit Nein, weswegen Griffin sich manchmal fragte, ob das ideale Haus, das sie suchten, überhaupt existierte. Vielleicht, schloss er, ging es ihnen um das Suchen an sich.
    Während er frei und unbeaufsichtigt, voll jugendlichen Bewegungsdrangs, am Strand herumtollte, verbrachten seine Eltern sonnige Nachmittage damit, im Sand zu liegen und sich ihren »verbotenen Freuden« zu widmen – Büchern, deren bloße Titel zu kennen sie ihren Kollegen gegenüber nie zugegeben hätten. Schließlich, behaupteten sie, hatten sie Urlaub, nicht nur vom Scheiß-Mittelwesten, sondern auch vom literarischen Kanon, den zu ehren sie geschworen hatten. Seine Mutter bevorzugte düstere, bedrückende Kriminalromane und zynische Agentengeschichten. »Das«, sagte sie, wenn sie mit offensichtlicher Befriedigung die letzte Seite umblätterte, »war richtig schräg.« Sein Vater wechselte zwischen literarischer Pornografie und P. G. Wodehouse, als gehörten Naked Lunch und Ein Lord in Nöten  zusammen.
    Das Einzige, was beide lasen – ja sie studierten die Broschüre so intensiv wie die jährliche Auflistung der Stellenangebote der Modern Language Association –, war der örtliche Immobilienanzeiger. Da bei der Lektüre keiner dem anderen den Vortritt lassen wollte, nahmen sie sich gleich nach der Ankunft zwei Exemplare und schrieben ihre Namen auf das Titelblatt, damit man wusste, wem das Heft gehörte und wer schuld war, wenn es verloren ging. Ein Haus auf dem Cape gehörte zu dem langfristigen Zweistufenplan für ihre Flucht aus dem Scheiß-Mittelwesten. Zunächst würden sie richtige Stellen an der Ostküste ergattern und eine passende Wohnung mieten. Das würde es ihnen ermöglichen, Geld für ein Haus auf dem Cape zu sparen, wo sie die Sommer, die Feiertage und gelegentlich ein langes Wochenende verbringen könnten, bis sie in den Ruhestand – wenn irgend möglich den Vorruhestand – treten und ständig dort leben würden. Dann würden sie lesen, Artikel schreiben und sich vielleicht sogar an einem Roman versuchen.
    Gewöhnlich dauerte es nur einen Tag, bis sie die Hunderte von Anzeigen durchgeackert und in zwei Kategorien eingeteilt hatten: »Können wir uns nicht leisten« und »Möchte ich nicht geschenkt haben«. Dann warfen sie die Broschüren angewidert in eine Ecke, weil alles noch teurer geworden war als im letzten Jahr. Doch schon am nächsten Tag legte Griffins Vater seinen Jeeves beiseite und riskierte einen zweiten Blick. »Seite siebenundzwanzig«, sagte er dann, und Griffins Mutter klappte ihren Ripley zu und kramte in ihrer Strandtasche nach dem Heft. »Lass mich erklären«, fuhr er fort oder: »Da müsste vorher natürlich noch einiges klappen« – womit er einen saftigen Bonus oder einen neuen Buchvertrag meinte –, »aber …« Und dann führte er aus, warum einige der Angebote, die sie am Tag zuvor so rasch verworfen hatten, vielleicht doch nicht so schlecht waren. Später, an einem Regentag, gingen sie vielleicht sogar so weit, sich ein, zwei Häuser vom unteren Ende der Können-wir-uns-nicht-leisten-Kategorie anzusehen, doch die Makler sahen immer schon auf den ersten Blick, dass Griffins Eltern keine ernsthaften Interessenten waren. Das Haus, das sie sich wünschten, lag in einer Zukunft, die nur sie zu sehen vermochten. Für Leute, die hauptsächlich mit Träumen handelten, bemerkte sein
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