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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman
Autoren: Richard Russo
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man so wollte, bestand darin, dass er, weil er sich an einem Stück Fleisch verschluckt hatte, dunkelrot anlief, bis ein Ober seine Not bemerkte und ihn per Heimlich-Manöver davon befreite.
    Die Neuerfindung seiner Mutter, ein kühner und für eine Weile erfolgreicher Schritt, war allerdings letztlich zum Scheitern verurteilt. Als die Universität, hauptsächlich auf ihr Betreiben hin, eine Abteilung für Geschlechterforschung einrichtete, nahm sie natürlich an, dass man ihr die Leitung übertragen würde, doch stattdessen entschied man sich für eine transsexuelle Professorin, ausgerechnet aus Utah, und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Fortan unterrichtete sie noch, beteiligte sich jedoch nicht mehr an irgendwelchen Sitzungen und nahm keinerlei Anteil mehr an den Entscheidungen in ihrem Fachbereich. Wenn Griffin sich nicht täuschte, hoffte sie im Stillen, dass die Kollegen ihr Fehlen bemerken und sie bitten würden, doch wieder am akademischen Leben teilzunehmen, doch das geschah nicht. Selbst Bartlebys Tod rief wenig Mitgefühl hervor. Sie publizierte weiterhin, veranstaltete Podiumsdiskussionen und bewarb sich um die Leitung diverser Lehrstühle für Englisch, aber ihre Akte enthielt inzwischen einige Briefe des Inhalts, sie sei zwar eine gute Dozentin und ausgezeichnete Gelehrte, allerdings auch polarisierend und streitlustig. Mit einem Wort: eine Zicke.
    Als seine Mutter pensioniert wurde, nahm Griffin trotz schwerer Bedenken die Einladung der Universität zu einem Abschiedsdiner an. (Joy bot sich an, ihn zu begleiten, doch er bestand darauf, ihr das zu ersparen.) In jenem Jahr gab es außergewöhnlich viele Professoren, die in den Ruhestand traten, und jeder bekam Gelegenheit, sich über seine vielen Jahre im Dienste dieser Institution zu verbreiten. Griffin fand es besonders beunruhigend, dass seine Mutter die letzte Rednerin war. Möglicherweise hatten die Planer dieses Diners die besten, renommiertesten Emeritierten ans Ende der Rednerliste gesetzt, doch wahrscheinlicher war, dass sie seine dunklen Vorahnungen geteilt hatten und diese Maßnahme eine Art Schadensbegrenzung darstellte. Als sie schließlich an der Reihe war, erhob seine Mutter sich unter höflichem Applaus und trat ans Rednerpult. Dass sie ein teures, gut geschnittenes Kostüm trug, vergrößerte die allgemeine Besorgnis. »Im Gegensatz zu meinen Kolleginnen und Kollegen«, sagte sie in das Mikrofon und war die Einzige an diesem Abend, die die Notwendigkeit dieses Hilfsmittels erkannte, »werde ich mich kurz fassen und aufrichtig sein. Ich wollte, ich könnte etwas Nettes über Sie und diese Universität sagen, wirklich. Doch die Wahrheit, die wir nicht auszusprechen wagen, ist, dass diese Hochschule ebenso eindeutig zweitrangig ist wie die überwältigende Mehrheit ihrer Studenten und wir selbst.« Und damit kehrte sie zu ihrem Platz zurück und tätschelte Griffins Hand, als wollte sie sagen: Na bitte, das war doch gar nicht so schlimm, oder? Was sie dann in die verblüffte Stille hinein tatsächlich sagte, war: »Seltsam – zum ersten Mal seit über zehn Jahren wünschte ich, dein Vater wäre hier. Das hätte ihm gefallen.«
    Seinem Vater erging es nach der Scheidung noch schlechter. Auch er versuchte, sich neu zu erfinden, und widmete sich dem neuen Studiengang für Amerikanistik. Er hatte sich schon immer mindestens ebenso sehr für Politik und Geschichte wie für Literatur interessiert, und die Universität war bereit, ihn zur Hälfte an die Amerikanisten auszuleihen, vorausgesetzt, seine Kollegen vom Lehrstuhl für Englisch hatten keine Einwände (die hatten sie allerdings nicht). Sein neues Büro befand sich eine Etage tiefer im Gebäude für moderne und klassische Philologie, und Claudia, eine dralle, großbusige Studentin, hatte sich erboten ihm zu helfen, die etwa siebzig Kartons voller Bücher und Zeitschriften dorthinzutragen. Das erforderte häufiges Bücken, und sie trug keinen BH . Zuvor hatte er sie kaum bemerkt, doch das änderte sich jetzt, und seine Kollegen bemerkten, dass er sie bemerkte, und tuschelten, es sei offensichtlich, welche Hälfte von ihm bei den Amerikanisten sei und welche bei den Philologen. Griffin war ziemlich sicher, dass sein Vater wenig Lust verspürte, noch einmal zu heiraten, und es wohl nicht getan hätte, wären Beziehungen zwischen Dozenten und Studenten nicht streng verboten gewesen. Was wirklich absurd war. Immerhin war Claudia keine Studienanfängerin. Sie war
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