Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diebe

Diebe

Titel: Diebe
Autoren: Will Gatti
Vom Netzwerk:
zurückblieb.
    Wachsam schleicht sie durch das Barrio und drückt sich jedes Mal, wenn sie jemanden in der Nähe spürt, in den Schatten. Sie fragt sich, ob der College-Typ, den Raoul gesehen hat, noch hier herumspioniert, und beinahe wäre es ihr lieber, Demi hätte den Ring nie in die Finger bekommen. Bald darauf hat sie den hart getrockneten Schlamm am Flussufer erreicht, ungefähr vierhundert Meter flussaufwärts von Fays Bude entfernt. Hier draußen spendet der sternenklare Himmel ein bisschen Licht, sodass sie sehen kann, wonach sie sucht: ein altes, gedrungenes Lotsenboot, das in einem verrückt schrägen Winkel auf der Seite liegt, ein gehöriges Stück draußen im Schlamm. Sie zieht die sauberen Sneakers aus und beginnt am Rand des ausgetrockneten Flusses entlangzugehen.

4
    Baz dreht sich noch ein paarmal um und muss dabei daran denken, dass Fay, so wie Demi es ihr beschrieben hat, anscheinend immer genauso vorsichtig ist, wenn sie zu ihrem Versteck geht. Vielleicht bin ich ein bisschen wie Fay, denkt Baz. Wenn man lange genug mit einer Person zusammenlebt, wird man ihr wahrscheinlich immer ähnlicher. Das hofft Baz zwar nicht, trotzdem wirft sie einen spähenden Blick zurück. Demi hat mal versucht, ihr zu folgen, aber sie hat es mitgekriegt und ihn abgehängt. Demi weiß, dass sie irgendwo am Fluss ein Versteck hat, aber Fay meinte, er solle sie in Ruhe lassen. »Ein Mädchen braucht seinen Freiraum. Ihr Jungs seid wie die Affen, überall hängt ihr eure schmutzigen Flossen mit rein. Baz braucht einfach mal Ruhe. Stimmt’s, Baz?«
    Baz hatte noch nie richtig darüber nachgedacht, warum sie einen Ort für sich allein haben wollte. Sie war immer gern mit Demi zusammen, auch mit den anderen, und in Fays Bude hatte sie sich immer sicher gefühlt, sogar wenn sie auf dem flachen Dach schlief. Aber ein geheimes Plätzchen, da konnte man sich verkriechen und all die bösen Gedanken aussperren, die sich ständig einschleichen wollten und einen bedrohten.
    Sie hatte sich auch in anderen gestrandeten Booten umgeschaut, aber die waren meistens leicht zu erreichen und boten daher keinen Schutz. Verrostete Wracks waren es, mit Graffiti übersät, außerdem stanken sie. Alles, was sich abschrauben oder mit der Brechstange aushebeln ließ, hatte man entfernt, alles Übrige war demoliert und kaputt. Baz hat lange gebraucht, bis sie einen Weg hinaus zu dem alten Lotsenboot fand, aber nun gehört es ihr – ein Andenken an die Zeit, als der Fluss noch strömte und die Stadt noch in Richtung Meer atmete.
    Zuerst bewegt sie sich in flachem Winkel vom Ufer weg. Wo der Schlamm weich ist, tritt sie vorsichtig auf, denn dort kann man bis zum Hals einsinken. Sie weiß das – als sie zum ersten Mal hierherkam, hatte sie eine Vorhangstange dabei und tastete sich damit voran. An der Biegung des Flusses durchquert sie den Schlamm und hält sich immer geradeaus. Zwanzig Schritte weiter wendet sie sich nach rechts und steuert eine alte, auf der Seite liegende Eisenboje an. Vorsichtig umrundet sie die Boje, dreht dann wieder nach links ab und strebt in regelrechtem Zickzack auf das Boot zu. Fünfzehn Meter vor dem Wrack bleibt sie stehen, dann läuft sie, so schnell sie kann, los. Der Schlamm ist hier besonders weich, ein Ausrutscher oder ein Stolpern, und es ist aus mit ihr, aber sie zögert keinen Augenblick; sie hat die Strecke schon viele Male zurückgelegt und weiß, was sie tut. Als sie mit dem linken Fuß bis zum Knöchel einsinkt, greift sie nach der behelfsmäßigen Leiter, die sie sich zu diesem Zweck gebastelt hat, zieht den Fuß mit einem angenehm saugenden Geräusch aus dem Schlamm und klettert an Deck. Dort wäscht sie sich zunächst den Fuß mit Wasser, das sie in einer Plastikflasche mitgebracht hat, dann tappt sie über das schräg liegende Deck zur Laufplanke, die in die Kajüte hinunterführt.
    Am unteren Ende des abschüssigen Fußbodens hat sie sich aus weichen Gegenständen ein Nest gebaut, wo sie sich hinlegen, durch die Luke nach oben schauen und die Sterne und den langsam dahinziehenden Mond betrachten kann, bis der Schlaf kommt. Wenn sie träumt, dann oft das Gleiche: Sie hört Donner, zunächst in der Ferne, dann immer näher, und sie weiß, es ist kein echter Donner, denn sie sieht keinen Blitz, der den Nachthimmel durchzuckt. Die Reling umklammernd steht sie an Deck, vorne am aufragenden Bug, und starrt flussaufwärts, wo sich eine riesige, vielleicht zehn Meter hohe Welle durchs ausgetrocknete Flussbett
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher