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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut
Autoren: Dean R. Koontz
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wird er ein letztes Mal ausatmen und den letzten Rest seiner Substanz mit diesem Atemzug verströmen.
    Tränen beeinträchtigen seine Sicht. Er ist überwältigt von seiner Einsamkeit und von der Sinnlosigkeit seines Lebens gequält.
    Er verschränkt die Arme vor der Brust, umarmt sich selbst, beugt sich nach vorne und legt den Kopf auf das Lenkrad. Er schluchzt wie ein kleines Kind.
    Er kennt seinen Namen nicht, nur die Namen, die er in Kansas City verwenden wird. Er wünscht sich so sehr, einen eigenen Namen zu haben, der nicht gefälscht ist wie die Kreditkarten, auf denen er steht. Er hat keine Familie, keine Freunde, kein Zuhause. Er kann sich nicht erinnern, wer ihm diesen Auftrag gegeben hat – oder die anderen Jobs davor –, und er weiß nicht, warum seine Opfer sterben müssen. Unglaublicherweise hat er auch keine Ahnung, wer ihn bezahlt, kann sich nicht erinnern, woher er das Geld in seiner Brieftasche hat oder wo er die Kleidung gekauft hat, die er am Leib trägt.
    Auf einer viel tieferen Ebene weiß er nicht, wer er ist. Er besitzt keine Erinnerung an eine Zeit, als etwas anderes als Mord sein Beruf gewesen ist. Er hat keine politische Meinung, keine Religion, keine wie auch immer geartete Lebensphilosophie. Wenn er versucht, sich um aktuelle Belange zu kümmern, muß er feststellen, daß er nicht begreifen kann, was in den Zeitungen steht; er kann seine Aufmerksamkeit nicht ein mal auf die Nachrichten im Fernsehen konzentrieren. Er ist intelligent, dennoch gestattet er sich – oder werden ihm gestattet – nur Befriedigungen körperlicher Natur: Essen, Sex, die brutale Erregung des Mordens. Weite Teile seines Geistes sind nicht kartographiert.
    Ein paar Minuten verstreichen unter grünem und rotem Neon.
    Seine Tränen trocknen. Langsam hört er auf zu zittern.
    Er kommt wieder in Ordnung. In den alten Trott zurück. Gefaßt, beherrscht.
    Tatsächlich erhebt er sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus den Niederungen der Verzweiflung. Überraschend, wie schnell er bereit ist, mit seinem letzten Auftrag fortzufahren – und mit dem bloßen Schatten eines Lebens, das er führt. Manchmal scheint ihm, als wäre er wie eine dumme und gehorsame Maschine programmiert.
    Andererseits, würde er nicht weitermachen, was sonst bliebe ihm? Dieser Schatten eines Lebens ist das einzige Leben, das er hat.

5
    Als die Mädchen oben waren, sich die Zähne putzten und für das Bett zurechtmachten, ging Marty methodisch von Zimmer zu Zimmer des Erdgeschosses und vergewisserte sich, daß alle Türen und Fenster versperrt waren.
    Er hatte die halbe Runde im Parterre schon beendet – und zog gerade am Riegel des Küchenfensters über der Spüle –, als er sich überlegte, was für einer seltsamen Beschäftigung er hier nachging. Normalerweise vergewisserte er sich vor dem Schlafengehen, daß Eingangs- und Hintertür abgeschlossen waren, natürlich, ebenso die Schiebetür vom Wohnzimmer zur Veranda, aber für gewöhnlich kümmerte er sich nicht darum, ob ein bestimmtes Fenster geschlossen war, es sei denn, es wäre tagsüber zum Lüften geöffnet worden. Dennoch überprüfte er die Sicherheit des Hauses, so geflissentlich, wie ein Wachposten die äußerste Verteidigungslinie eines von Feinden belagerten Bollwerks überprüfen würde.
    Als er mit der Küche fertig war, hörte er Paige eintreten, und einen Augenblick später schlang sie beide Arme um ihn und umarmte ihn von hinten. »Alles in Ordnung?« fragte sie.
    »Ja, nun …«
    »Schlimmer Tag?«
    »Eigentlich nicht. Nur ein schlimmer Augenblick.«
    Marty drehte sich in ihren Armen um und umarmte sie ebenfalls. Sie fühlte sich so wunderbar an, so warm und kräftig, so lebendig .
    Es überraschte ihn nicht, daß er sie jetzt noch mehr liebte als damals am College, als er sie kennenlernte. Die Triumphe und Niederlagen, die sie gemeinsam erlebt hatten, die jahrelangen tagtäglichen Bemühungen, einen Platz in der Welt zu finden und ihren Sinn zu erkennen, das alles war ein fruchtbarer Nährboden, auf dem Liebe wachsen konnte.
    Aber in einer Zeit, da das Schönheitsideal angeblich von neunzehnjährigen professionellen Cheerleaderinnen der Oberliga-Footballmannschaften verkörpert wurde, hätte es eine Menge Leute bestimmt überrascht zu hören, das wußte Marty, daß er Paige mit jedem Jahr attraktiver fand, mit dem sie von einem neunzehnjährigen Mädchen zu einer dreiunddreißigjährigen Frau wurde. Ihre Augen waren nicht blauer als bei ihrer ersten Begegnung; ihr Haar
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