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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut
Autoren: Dean R. Koontz
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mediterranen Stil gebaut, Stuck mit Lehmziegeldächern, von der Spätnachmittagssonne vergoldet und von den filigranen Schatten überhängender Palmwedel verziert. Das ruhige, wohldurchdachte, bis auf den Quadratzentimeter geplante Viertel – tatsächlich sogar die ganze Stadt Mission Viejo – schien eine Zuflucht im Chaos zu sein, das heutzutage den größten Teil der Welt beherrschte.
    Er schloß die Läden und sperrte die Sonne völlig aus.
    Offenbar existierte die Gefahr nur in seinem Kopf, eine Ausgeburt derselben regen Phantasie, die ihn schließlich zu einem einigermaßen erfolgreichen Kriminalschriftsteller gemacht hatte.
    Und doch schlug sein Herz schneller denn je.
    Marty ging zur Tür seines Büros hinaus und auf den Flur, bis zur Treppe. Dort blieb er so reglos wie der Geländerpfosten stehen, auf den er eine Hand gelegt hatte.
    Er war nicht sicher, was er zu hören erwartete. Das leise Quietschen einer Tür, schleichende Schritte? Das verstohlene Rascheln und Klicken und gedämpfte Poltern eines Eindringlings, der langsam durch das Haus ging?
    Da er nichts Verdächtiges hörte und sein rasender Herzschlag langsamer wurde, ließ das Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe langsam nach. Aus Angst wurde bloßes Unbehagen.
    »Wer ist da?« fragte er, nur um das Schweigen zu unter brechen.
    Der Klang seiner Stimme, die Verwirrung ausdrückte, vertrieb die unheilschwangere Stimmung. Nun war die Stille nur noch die eines leeren Hauses, ohne Bedrohung.
    Er ging in sein Büro am Ende des Flurs zurück und ließ sich auf dem Ledersessel hinter seinem Schreibtisch nieder. Da die Läden fest geschlossen waren und keine Lampe brannte, abgesehen von der mit dem Tiffanyschirm, schienen die Ecken des Zimmers weiter zurückzuweichen, als die Abmessungen der Wände zuließen – als befände er sich am Schauplatz eines Traums.
    Da Obst das Motiv des Lampenschirms bildete, spiegelte die schützende Glasplatte auf dem Schreibtisch leuchtende Ovale und Kreise in Kirschrot, Pflaumenviolett, Traubengrün, Zitronengelb und Beerenblau. Die polierte Metall- und Plexiglasoberfläche des Diktiergeräts, das auf der Glasplatte stand, spie gelte ebenfalls das leuchtende Mosaik und schimmerte, als wären Juwelen darin eingelassen. Als er nach dem Diktiergerät griff, stellte Marty fest, daß seine Hand in die schuppige, irisierende Regenbogenhaut einer exotischen Eidechse gehüllt zu sein schien.
    Er zögerte und studierte die Pseudoschuppen auf seinem Handrücken und die Phantomjuwelen auf dem Diktiergerät. Die Wirklichkeit war von einer Schicht der Illusionen überzogen wie ein beliebiges Stück Fiktion.
    Er nahm das Diktiergerät und drückte eine oder zwei Sekunden auf die Rücklauftaste, um die letzten Worte des unvollendeten Briefs an seinen Lektor zu suchen. Das dünne, schrille Piepsen seiner rückwärts abgespulten Stimme drang wie eine fremde Sprache aus dem kleinen, blechernen Lautsprecher.
    Als er die Play-Taste drückte, stellte er fest, daß er nicht weit genug hatte zurücklaufen lassen: »… ich muß … ich muß … ich muß …«
    Stirnrunzelnd drückte er wieder auf Rücklauf und spulte das Band doppelt so weit zurück wie zuvor.
    Aber immer noch: »… ich muß … ich muß … ich muß …«
    Rücklauf. Zwei Sekunden. Fünf. Zehn. Stop. Play.
    »… ich muß … ich muß … ich muß … «
    Nach zwei weiteren Versuchen fand er den Brief: »… daher müßte ich die endgültige Fassung des neuen Buchs in etwa einem Monat fertig haben. Ich glaube, es ist … es ist … äh … es …«
    Das Diktat brach ab. Schweigen ertönte vom Band – und sein eigenes Atmen.
    Als der aus zwei Worten bestehende Gesang schließlich anfing, hatte sich Marty gespannt auf dem Sessel nach vorne gebeugt und betrachtete das Diktiergerät in seiner Hand.
    »… ich muß … ich muß …«
    Er sah auf die Uhr. Nicht ganz sechs Minuten nach vier.
    Anfangs entsprach das verträumte Murmeln genau dem, das er gehört hatte, als er wieder zur Vernunft gekommen war und leisen Gesang wie die Antworten auf eine nicht endende, phantasielose religiöse Litanei hörte. Aber nach etwa einer halben Minute veränderte sich die Stimme auf dem Band, wurde schneidend und hektisch, zuerst zornerfüllt, dann wütend.
    »… ICH MUSS … ICH MUSS … ICH MUSS …«
    Frustration sprach aus diesen beiden Worten.
    Der Marty Stillwater auf Band – der für den lauschenden Marty Stillwater auch ein vollkommen Fremder hätte sein können – hörte sich an,
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