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Die Zweierbeziehung

Die Zweierbeziehung

Titel: Die Zweierbeziehung
Autoren: Jürg Willi
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hebt das Selbstgefühl. Das gegenseitige Stützen und Gestütztwerden vermittelt den Partnern ein hohes Maß an Befriedigung und gibt eine wesentliche Motivation zur Paarbildung. Vorübergehend teilweise regredieren zu können ist für die Reifung eine wichtige Voraussetzung. Die «Regression im Dienste des Ich» wird deshalb in der psychoanalytischen Behandlung vom Therapeuten bewusst gefördert. Michael BALINT stellt die genitale Liebe als höchste Reifungsstufe in Zusammenhang mit der Erfordernis, im Orgasmus vorübergehend zu regredieren. Der Gesunde sei elastisch genug, diese Regression furchtlos zu erleben im sicheren Vertrauen, daraus wieder emportauchen zu können. Menschen aber, denen es schwergefallen sei, reif zu werden, dürften sich im Orgasmus nicht gehen lassen aus Angst, die reife Einstellung zu verlieren oder nicht wiederfinden zu können.
    Jeder Mensch trägt in sich progressive und regressive Tendenzen, aber nicht jeder Mensch ist fähig, sich progressiv oder regressiv zu verhalten. Das flexible Wechseln vom einen in den anderen Zustand ist manchen Menschen aus tieferen Gründen erschwert.
    Die einen neigen dazu, sich in einer Paarbeziehung auf rein regressives Verhalten zu fixieren und jede Anforderung zu reifem Verhalten von sich zu weisen. Sie erwarten einseitig von der Ehe die fortdauernde Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Pflege, Zuwendung, Zärtlichkeit und Passivität. Diese regressive Erwartungshaltung gründet häufig in unbewältigten Konflikten der frühen Kindheit und kann eine neurotische Fehlhaltung sein. Es kann jemand als Kind derart frustriert worden sein, dass er daraus das Anrecht auf Befriedigung seines unersättlichen Nachholbedarfs ableitet. Oder jemand ist als Kind so überbehütet und verwöhnt worden, dass er nun für die Ehe die Fortdauer dieses Zustandes postuliert. Meist wurde von den Eltern jede Regung zu Selbstständigkeit im Keime erstickt, sodass auch in der Ehe vom Partner Bestrafung und Liebesentzug erwartet wird, wenn man sich anders als kindlich abhängig zeigen würde. Oft wurde man als Kind in der Entwicklung so sehr entmutigt, dass man sich im Partner jemanden sucht, der einem stellvertretend die Reifungsanforderungen abnimmt und einem kindliches Verhalten zubilligt.
    Andere wiederum überfordern sich im Anspruch auf «Erwachsensein». Sie meiden jede Verhaltensweise, die als kindlich schwach, hilfebedürftig und abhängig interpretiert werden könnte, und bemühen sich um Charakterhaltungen der Stärke, Reife, Überlegenheit und Gefühlskontrolle, um die Verkörperung von Ich-Stärke. Sie suchen sich in der Paarbeziehung eine Aufgabe, in der sie sich als Führer, Retter, Supermann oder Spender unerschöpflicher Hilfe bestätigen können. Das Bedürfnis nach Übernahme solcher Aufgaben entspringt bei ihnen aber nicht echter Stärke und Reife, sondern ist ein Versuch, eigene Schwäche und Kindlichkeit forciert zu überspielen und erwachsene Reife durch Überkompensation zu erzwingen. Diese Charakterhaltung kann ebenso neurotisch sein wie die zuvor erwähnte regressive Haltung und kann darin gründen, dass man als Kind sich nie eine Blöße und einen Anschein von Schwäche geben durfte oder dass man so sehr verniedlicht wurde, dass man jetzt in der Ehe forciert durch gewichtiges «Erwachsenenverhalten» beeindrucken will. Im Gegensatz zur regressiven Haltung wird diese unechte Progression gesellschaftlich oft als wertvoll belohnt, weil sie die sozialen Werte der Tüchtigkeit, Hilfsbereitschaft, Aktivität und «Männlichkeit» verkörpert. Diese progressiven Charaktere sind aber sozial oft gefährlich, weil sie sich in ihrer überkompensierend progressiven Position nur halten können im Umgang mit Menschen, die sich als besonders regressiv, passiv, abhängig und hilfebedürftig anbieten und die sie regressiv halten müssen, um sich ausreichend gegen diese profilieren zu können.
    Die Begriffe der regressiven und progressiven Position sind in diesem Buch von zentraler Bedeutung. Regressive und progressive Position werden fortan meist als neurotische Abwehrhaltungen verstanden: Regression als ein Zurückfallen auf kindliche Verhaltensweisen, Progression als Versuch, eigene Schwäche mit «Erwachsenheitsfassade» zu überspielen.
    Dieses überkompensierende Verhalten bezeichnet man in psychoanalytischer Terminologie als Reaktionsbildung. Progressives Verhalten meint also Pseudoreife und nicht echte Reife.
    Mancher fixiert sich auf der regressiven Position aus
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