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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Autoren: Luca Tarenzi
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deprimiert am Küchentisch nieder. Ich war eine der wenigen in der Klasse, die noch eine zweite mündliche Note in Italienisch brauchten, und ich hatte das fragwürdige Glück, seit einer Ewigkeit nicht mehr mündlich geprüft worden zu sein: Das bedeutete nichts anderes, als dass ich morgen ganz oben auf der Liste stand und ein ganzes Bündel an Fakten parat haben musste.
    Die Farben des Nachmittags verblassten nach und nach in der Dämmerung und mir wurde erst bewusst, dass es dunkel geworden war, als ich das Buch vor meiner Nase ohne Schreibtischlicht kaum noch sehen konnte. Wenig später kam meine Mutter nach Hause und begrüßte mich lautstark durch den Flur. Im Handumdrehen jagte sie jede Spur von Dunkelheit mit Neonlampen aus dem Haus und jeden Rest an Stille mit orientalischer Musik.
    Als auch mein Vater heimkam, war das Abendessen fast fertig. Ich war zu müde und nervös, um eine ganze Mahlzeit mit ihrem Geplauder und seinem Schweigen zu ertragen, und so machte ich mir eines der wenigen Rechte zunutze, die mir die Schulpflicht verlieh: Ich rief durch die geschlossene Tür, dass ich in meinem Zimmer essen wollte. Meine Mutter wandte natürlich ein, dass Essen und Lesen gleichzeitig nicht gut für die Verdauung seien, aber sie machte wenigstens kein Theater.
    Zehn Minuten später klopfte es an meiner Tür. Ich hob verwundert den Blick vom Buch: Meine Mutter kam sonst immer ohne Vorankündigung rein, aber diesmal war es mein Vater, der mich mit rundem Rücken und Geieraugen über das Tablett mit dem Abendessen hinweg prüfend ansah.
    Ich nahm ihm mit einem »Danke« das Tablett aus der Hand.
    Aber er musterte mich auch weiterhin. »Du siehst immer noch erschöpft aus.«
    Ich zuckte die Schultern. »Ich hab den ganzen Tag gelernt, morgen steht mir ein mündlicher Test bevor, und ich muss noch dreißig Seiten wiederholen.«
    Der Geier wartete einen Moment, dann nickte er schließlich und entfernte sich. Ich sah ihm nach. Dies war das zweite Mal an einem Tag, dass er sich nach meinem Befinden erkundigte: Wenn ich Tagebuch schreiben würde, hätte ich es dort als Rekord eingetragen.
    Ich könnte nicht mehr sagen, wann sich die strengen Linien der Buchstaben, die aus dem Weiß der Seite hervorstachen wie ein Geflecht aus schwarzen Ästen auf einer Schneedecke, in die Schatten von echten Ästen verwandelten, die auf dem Boden sichtbar wurden. Allerdings war da kein Schnee: Es war eine kristallklare Nacht, beinahe schwül und sommerlich. Über mir blinkten durch dichtes Blätterwerk hindurch die Sterne. Überall um mich herum standen knorrige Baumstämme, teils weit voneinander entfernt, teils so dicht beieinander, dass ich nicht zwischen ihnen hätte hindurchgehen können. Es war dunkel, eine Dunkelheit wie in tiefster Nacht, zerschnitten nur von bleichen Strahlen des Sternenlichts.
    Meine Füße waren offenbar nackt, denn ich spürte unter den Sohlen den weichen, mit Gras und Moos bedeckten Boden. Oder vielmehr, ich unterschied sogar das eine vom anderen in der Berührung, ohne es zu sehen: Das Gras bildete eine unregelmäßige Oberfläche, wie ein aus groben Fäden gewebter Stoff; das Moos hingegen war weich und kompakt wie Samt, fast schwammig dort, wo es ein Stück Erde bedeckte, und fein wie die Schale einer Frucht dort, wo es einen Stein oder eine alte Wurzel umhüllte.
    Die Luft war unbeweglich, schwer und voller unbekannter Gerüche. Jeder Einzelne war klar unterscheidbar und lieferte mir eine ganz bestimmte Information. Feuchte, dampfende Erde: Es hatte vor Kurzem geregnet. Runzlige, moosbedeckte Bäume: ein alter und dichter Wald. Blätter, die gerade begannen, sich mit Tau zu bedecken: Die Nacht bereitete sich darauf vor, dem Morgengrauen zu weichen. Ein herber, warmer, fremder und zugleich altbekannter Geruch: Nicht weit von mir entfernt verbarg sich ein Dachsbau.
    Ich verharrte bewegungslos in der Stille. Es war absolut nichts zu hören, nicht einmal ein Windhauch, nicht einmal mein eigener Atem.
    Aber ich war nicht entspannt: In meinen Muskeln spürte ich eine Art Zittern, ein Gefühl der Erwartung, das nach außen gerichtet war, in die Luft um mich herum. Ich war auf der Suche: Ich wusste, dass es dort draußen war, im Dunkeln, ich hatte es kurz vorher schon gewittert.
    Dann erhob sich der Wind, und zwei Herzschläge später nahm ich es wahr: Ein kaum hörbares Geräusch, schnelle, trappelnde Schritte, begleitet von einem Keuchen.
    Es war, als würden in meinem Gehirn schlagartig Tausende von Glocken
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