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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Autoren: Luca Tarenzi
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dafür keine reelle Chance. Vielleicht auch besser so: Wenn ich ihn zu oft gesehen hätte, wäre es sicher aufgefallen, dass ich eine Schwäche für ihn hatte.
    Und das durfte am besten niemand wissen, er noch weniger als alle anderen.
    Als ich ihn ansah, erwiderte er einen Moment meinen Blick, senkte aber sofort die Lider. Das versetzte mir einen Stich. Hatte ich was falsch gemacht? Ich versuchte mich an unser letztes Gespräch zu erinnern, aber mein Kopf war wie leer geblasen.
    Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich auf halber Strecke zu meinem Platz stehen geblieben war und ins Leere starrte, während die anderen mich ihrerseits unverhohlen anglotzten. Humpelnd nahm ich den Weg ans Ende des Klassenzimmers wieder auf.
    Auch ohne hinzusehen, spürte ich, wie Angelas Augen zu meinem verletzten Knöchel wanderten. »Hey, Meis, Probleme mit deinem Bein? Zu viel getanzt vielleicht?«
    Sie sagte es mit nur leicht erhobener Stimme, fast als würde sie gar nicht mich meinen, die ich ja einige Meter von ihr entfernt war; dennoch provozierte ihre Bemerkung schallendes Gelächter, das vom einen Ende des Klassenzimmers bis zum anderen hallte.
    Ich taumelte, als hätte mich ein kräftiger Windstoß erfasst, schaffte es aber doch zu meinem Platz, bevor ich von oben bis unten rot anlief. Wenigstens hoffte ich das.
    Ich schloss die Augen und zwang mich, nicht die Hände vors Gesicht zu schlagen. Was zum Teufel war hier los? Warum lachten alle über mich? Was hatte Angelas Bemerkung zu bedeuten?
    »Veronica, bist du in Ordnung?«
    Die liebevolle und etwas heisere Stimme zu meiner Linken holte mich wieder zurück in die Realität.
    Ich öffnete die Augen und zwang mich, meiner Banknachbarin und einzigen Freundin ein Lächeln zu schenken.
    Irene war so groß wie ich, hatte eine herrliche Lockenmähne, deren Schwarz mit bläulichen Reflexen gesprenkelt war, riesige feuchte Kulleraugen und einen Teint, der mich im Vergleich fast dunkelhäutig erscheinen ließ. Sie war zweifellos hübsch, aber auf eine so niederschmetternde Art, dass man unwillkürlich den Wunsch verspürte, sie wie ein Plüschtier in den Arm zu nehmen.
    Sie trug immer strahlend weiße Blusen, teure Ohrringe und – als einziges Mädchen, das ich kannte – Röcke. Sie hatte ein sehr eigenes Parfüm, ein Gemisch aus Veilchen und Krankenhausdesinfektionsmittel, das mir an diesem Tag erwartungsgemäß umso heftiger in die Nase stieg. Ihr Vater war Juwelier, ihre Mutter Psychologin, und zwar eine von denen für hundertfünfzig Euro die Stunde.
    »Nein, ich bin überhaupt nicht in Ordnung.« Ich senkte die Stimme. »Ich habe mir den Knöchel verletzt.
    Ihre schimmernden Augen füllten sich mit Sorge. »Gestern Abend?«
    Sie war nicht auf der Party gewesen: Ein verrauchtes Lokal hätte ihr sicherlich einen Asthmaanfall eingebracht, und selbst der Geruch von Alkohol reichte ihr schon.
    »Ja. Nein …« Ich seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher.«
    »Was war denn los?« Sie warf einen abschätzigen Blick auf den Rest der Klasse; einige blickten immer noch in meine Richtung und grinsten.
    Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn. »Ich habe keine Ahnung: Ich kann mich an so gut wie nichts erinnern.«
    »Zu viel getrunken?«
    »Wahrscheinlich.«
    Ich zog meine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne, zusammen mit meinem Schal, aus dem auch diesmal eine übelkeiterregende Wolke hervorquoll. Irene zuckte nicht mit der Wimper, und ich fragte mich, wie das möglich war: Diesen Gestank musste man doch aus drei Metern Entfernung riechen!
    »Und da ist noch was …« Ich senkte die Stimme noch mehr; Irene näherte ihren Kopf dem meinen. »Irgendwas stimmt heute Morgen mit meinen Augen nicht. Und mit meinen Ohren. Und mit meiner Nase.«
    »Was soll das denn heißen?«
    »Ich weiß auch nicht, alles ist so viel … heftiger . Die Lichter, die Geräusche, der Geruch der Leute. Es ist, als wäre alles intensiver geworden.«
    »Hyperästhesie«, erwiderte sie im Brustton der Überzeugung, wie jemand, der eine große Menge an medizinischen Fachausdrücken kennt, einfach weil er sie alle auf sich selbst angewandt gehört hat.
    »Was heißt das?«
    »Das ist eine nervöse Störung: eine pathologische Verschärfung der Sinne.«
    »Und warum kriegt man so was?«
    »Aus vielerlei Gründen. Auf jeden Fall ist es keine Krankheit, sondern ein Symptom.«
    Es war sicher nicht ihre Absicht, mich zu erschrecken, aber sie tat es trotzdem. »Und was kann man dagegen
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