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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Autoren: Luca Tarenzi
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denn plötzlich überrollte mich eine Flut von Erinnerungen an den vorangegangenen Abend. Ich sah alles vor mir: das Lokal mit seinen scharlachroten Sesseln, die runden Tische, die Scheinwerfer, die mit ihrem Licht den rauchgeschwängerten Raum durchschnitten. Da waren bekannte Gesichter und solche, die ich noch nie gesehen hatte, einige Leute saßen an den Tischen, andere tanzten auf der Tanzfläche. Es war ein großes und lautes Fest: Elena hatte viele Freunde, sie war sehr beliebt. Auf den Tischen drängten sich jede Menge Gläser und bunte Flaschen. Es war ziemlich viel Alkohol im Umlauf. Zu viel für ein Fest mit lauter Minderjährigen.
    Und ich, wo war ich inmitten dieses Hexenkessels? Anscheinend saß ich an einem Tisch, trank aus einem Plastikbecher und war in ein Gespräch vertieft. Elena saß zwei Tische weiter, zusammen mit Angela und Susanna: Ich sah zu ihnen hinüber, Angela erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln, das freundschaftlich zu sein schien. Aber dann …
    Nebel, Dunkelheit, das gelbliche Licht einer Straßenlampe, hastende Schritte auf dem Asphalt, eine Stimme, die etwas schrie, eine Art Brüllen und …
    Die Aufzugtüren gingen klaffend auf und unterbrachen meinen Tagtraum. Ich lehnte mich gegen das Gitter: In meinem Kopf drehte es sich mehr denn je.
    Ich wartete ein paar Sekunden, hob meinen Schal wieder in die Höhe, kam aber nicht weiter als bis auf Armeslänge. Was hatte ich nur mit ihm angestellt? Er sah völlig unverändert aus, stank aber wie ein Lumpen, mit dem man eine Lache aus Wodka und Zigarettenstummeln aufgewischt hatte.
    Ich wickelte ihn mir trotzdem um den Hals und versuchte, ihn so weit wie möglich von meiner Nase entfernt zu drapieren. Ohne ihn konnte ich nicht los, wenn ich mir nicht – zum großen Vergnügen meiner Mutter – den Rest holen wollte. Im Erdgeschoss verließ ich den Aufzug und schlüpfte hinaus in die morgendliche Kälte.

K apitel 2
    Montag, 9. Februar
    I ch hätte nicht sagen können, was ich wirklich über meine neue Stadt dachte, und das irritierte mich.
    Bis vor wenigen Monaten war die Altstadt von Ravenna mein Zuhause gewesen: die schmalen, schattigen Gassen, das Kopfsteinpflaster, die immer wieder überraschend auftauchenden Überreste der alten Stadtmauer und der Duft des Meeres, den der Wind von der Küste an manchen Tagen in die Stadt trug. Eine Welt, die ich liebte, nicht nur, weil sie die einzige war, die ich kannte. Und dann war Mailand gekommen, einfach so, völlig aus dem Nichts, wie ein Meteorit, der in mein Leben eingeschlagen war.
    Sich hier einzugewöhnen, war nicht einfach und mir im Grunde noch immer nicht gelungen: An manchen Tagen hatte ich solches Heimweh nach Ravenna, dass ich kaum atmen konnte. Und doch war das hier jetzt mein Zuhause, und damit musste ich irgendwie klarkommen.
    Vielleicht , sagte ich mir, sind sechs Monate nicht genug, um die Seele eines Ortes zu erspüren . Vielleicht musste ich nur Geduld haben und warten, dass der neue Himmel, die neuen Straßen, die andere Luft ein Teil von mir wurden … Tatsächlich aber fühlte ich mich in Mailand wie eine Fremde, und die Stadt interessierte sich nicht im Geringsten für meine Meinung über sie.
    An diesem Morgen griff sie noch gewaltsamer nach mir als sonst. Die Luft war eiskalt und schwer von Feuchtigkeit, das Licht der Straßenlampen tauchte den tief hängenden Nebel in eine gelbliche Farbe, die mir in den Augen brannte. Ich seufzte: Wenigstens hatte es aufgehört, zu regnen.
    Die fünf Minuten Weg, die mich von der Metro-Station trennten, fühlten sich an wie fünf Stunden. In kleinen Hüpfern nahm ich die Treppe in Angriff, in der Hoffnung, dass es dort unten wenigstens ein wenig wärmer sein würde. Als die morgendliche Menschenmenge vor mir auftauchte, überrollte mich schlagartig eine solche Woge von Stimmen, Gerüchen und Bewegungen, dass ich für einen Augenblick glaubte, ohnmächtig zu werden. Ich lehnte mich an eine Wand, selbst die Lichter des Kiosks am Fuß der Treppe waren kaum zu ertragen.
    Ich zählte bis zehn und versuchte, die aufsteigende Panik zu ignorieren. Dann öffnete ich vorsichtig die Augen und wagte einen zweiten Blick auf den Kiosk: Die Lichter waren zwar immer noch ein wenig zu hell und wurden grell von den Titelblättern der Zeitschriften reflektiert, aber es ging.
    Mit gesenktem Kopf legte ich die zehn Meter bis zur Sperre zurück, hielt meine Schülerkarte an den Sensor und schleppte mich die Treppen zu den Zügen hinunter. Der Bahnsteig
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