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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Autoren: Luca Tarenzi
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Kekse und spürte, wie sich mir unwillkürlich der Magen umdrehte. Ich riss mich zusammen und zwängte mir einen Keks zwischen die Zähne, als wäre alles in bester Ordnung. Ich kaute, schluckte, trank einen Schluck Kaffee und begann die ganze Prozedur von vorn, ohne weiter auf das Geschnatter meiner Mutter zu achten.
    Als ich eher zufällig aufsah, kreuzte mein Blick den meines Vaters: Er hatte die Zeitung gesenkt und starrte mich regelrecht an.
    Wenn meine Mutter einem Papagei ähnelt, hat mein Vater eher etwas von einem Geier. Fast zwei Köpfe größer als die Damen des Hauses, spindeldürr, mit hoher Stirn und so streichholzkurzen Haaren, als wolle er damit seine Hakennase noch zusätzlich betonen, saß er in seinem Sessel, den Kopf zwischen den Schultern wie ein Raubvogel in Erwartung seiner Beute. Er arbeitete als Versicherungsvertreter, und das seit zwanzig Jahren ohne Unterbrechung; wegen seinem Job hatte man uns vor einem halben Jahr in Ravenna entwurzelt und in den Zement von Mailand verpflanzt.
    »Alles in Ordnung, Veronica?« Seine Stimme war so tief, wie die meiner Mutter schrill war.
    »Ja, warum?«
    »Du siehst erschöpft aus. Und du bist blass.«
    »Nica ist immer blass«, schaltete sich meine Mutter ein, ohne sich umzudrehen. »Weil sie in einem total hirnrissigen Tagesrhythmus lebt, nie in die Sonne geht und nur ekelhaftes Zeug isst.«
    Ich verzog schweigend den Mund. Es war immer dieselbe Litanei; unnötig, sich auf eine Diskussion einzulassen.
    »Wo warst du gestern Abend?«, insistierte der Geier.
    »Beim Geburtstag einer Freundin.«
    »Im Zentrum?«
    »Ja.«
    »Und ist alles gut gegangen?«
    Ich tat so, als wäre ich noch voll mit Kauen beschäftigt, um genügend Zeit zu gewinnen, meine Antwort überzeugend klingen zu lassen. Aber in der nächsten Sekunde klingelte im Wohnzimmer das Handy meines Vaters, und er tat das, was er schon immer am besten konnte: Er verschwand.
    Keine halbe Minute später machte sich auch meine Mutter auf den Weg in Richtung Bad. Das war meine Chance: Ich stürzte hinunter, was von meinem Kaffee noch übrig war, unterdrückte die Übelkeit und schnellte hoch, um so schnell wie möglich in mein Zimmer zu gelangen. Sieben Hüpfer bis zur Zimmertür, einen, um nach dem Rucksack auf dem Stuhl zu greifen, weitere neun zur Wohnungstür.
    An der Garderobe schnappte ich mir meine Lederjacke und den riesigen schwarzen Wollschal, den ich mir immer wie ein Umhängetuch um die Schultern legte.
    Aus dem Bad war das Getriller meiner Mutter zu hören: »Du wirst doch nicht dieses Lederdings anziehen, oder? Draußen ist es eiskalt!«
    »Nein«, rief ich zurück, »es ist gar nicht so kalt. Ciao!« Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
    Tatsächlich war es im Treppenhaus so kalt wie am Nordpol, und ich kam mir nun doch etwas dämlich vor. Aber ich mochte diese Jacke, auch wenn sie nicht warm hielt. Und sie war einfach das richtige Outfit für diesen Tag: Ein Anorak wäre … irgendwie ein Zeichen von Schwäche gewesen.
    Ich humpelte auf die Treppe zu, machte aber auf halber Strecke kehrt und beschloss, den Aufzug zu nehmen. Seit ich hier wohnte, war ich die fünf Stockwerke hoch wie runter immer zu Fuß gegangen: jeder Absatz ein paar verbrauchte Kalorien. Aber heute war es sinnlos, es überhaupt zu versuchen.
    Unser Haus war nicht gerade das, was man ein modernes Gebäude nennen würde. Außen und innen weiß gestrichen, hatte es die typische Form der alten Mailänder Mietshäuser: vier Flügel, die sich um einen mickrigen Innenhof drängten – in dem unseren gab es sogar einen kleinen Teich, der mehr wie ein Sumpf aussah, mit Grasbüscheln, die auch im Sommer strohgelb waren, und einem halben Dutzend Goldfischen, bei deren Anblick ich immer an eine Flüchtlingsfamilie denken musste. Auch die mit Geranien geschmückten Balkons waren wenig dazu angetan, den Gesamteffekt zu verbessern. Das Treppenhaus war eng und steil, die Wände sahen schlicht heruntergekommen aus, und die Türen des sowieso schon geräuschvollen Aufzugs wurden von einem noch geräuschvolleren Metallgitter geschützt, das beim Öffnen so gewaltsam zur Seite schnellte wie ein Fallbeil.
    Ich drückte die Taste, um den Klapperkasten zu rufen, und schwang mir meinen Schal um die Schultern. Eine Woge aus Rauch, Schweiß, Alkohol und Schlimmerem wallte daraus hervor, sodass ich beinah taumelte. Schnell riss ich mir das Stück Stoff wieder vom Leib.
    Es war, als hätte sich in meinem Kopf eine Tür geöffnet,
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