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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Autoren: Luca Tarenzi
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zu läuten beginnen. Ich sprang auf, stürzte vorwärts, zwischen die Bäume, ohne zu denken, ohne mich zu fragen, warum ich hier war und was ich hier machte.
    Ich lief in einer Geschwindigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte, übersprang Wurzelballen und Bachläufe, die unvermittelt in der Erde auftauchten. Jede meiner Bewegungen war blitzschnell, instinktgesteuert, wie hundertfach einstudiert. Plötzlich drehte der Wind und trug neue Geräusche zu mir herüber, diesmal begleitet von einem Geruch, und nun fühlte ich etwas sehr Seltsames: Mein Geist teilte sich in zwei Hälften. Der eine Teil spürte dem Geruch nach, analysierte ihn und identifizierte nacheinander glühende Haut, schweißgetränkte Kleidung und den herben, gepressten Atem der Angst; der andere Teil fokussierte sich wie ein Lichtstrahl nur auf ein einziges unmittelbares Bedürfnis, und ganz plötzlich schlug ich einen rechten Haken.
    Ich durchquerte eine buschbewachsene Talsenke und übersprang einen umgestürzten Baumstamm, als sich am Rande meines Gesichtsfelds unvermittelt etwas bewegte. Ich stürzte mich sofort darauf, aber es war schon verschwunden. Noch einmal durchtränkte der Geruch von eben die Luft, intensiver als zuvor: Ich atmete ihn tief durch die Nase ein, und er ließ mich vibrieren wie die Seite einer Violine.
    Ich bückte mich hinunter, wo der Geruch stärker wurde, drehte den Kopf nach links und rannte dann von Neuem los. Wieder ein Rascheln, diesmal ganz nah, zwischen den Bäumen, das Knacken eines abgebrochenen Astes und dann ein Aufprall, begleitet von einem Stöhnen. Der Teil meines Gehirns, der noch in der Lage war, zu denken, klassifizierte diese Lautsequenz als »Stolpern«, aber noch bevor der Gedanke zu Ende gedacht war, ließ mich der andere Teil schon nach vorn ins Gebüsch stürzen, auf einen Punkt zu, wo sich zwischen den Bäumen eine winzige Öffnung zeigte.
    Als ich aus dem Dickicht hervorschoss, sah ich ihn. Er war gerade dabei, wieder aufzustehen, so schnell er konnte, aber als er mich sah, erstarrte er. Zwei riesige, kindliche Augen waren auf mich gerichtet, in ihnen standen Tränen, und sie waren schwarz in einem milchigen Gesicht, das sowohl das eines Jungen als auch das eines Mädchens hätte sein können.
    Auch ich sah ihm einen Sekundenbruchteil in die Augen, und mein gespaltener Geist zerbarst beinahe zwischen völlig widersprüchlichen Gefühlen. Der denkende Teil presste sich zu einem Knoten aus Mitleid, Verzweiflung und Schrecken zusammen. Der andere hingegen spürte nur einen einzigen Impuls: Hunger.
    Schon schnellte ich nach vorn und meine Ohren füllten sich mit einem Schrei. Meinem Schrei.
    Ich warf den Kopf zurück, als vor meinen Augen eine Wolke aus Blitzen explodierte. Dann war alles finster.
    Ich saß im Dunkeln, die Schultern gegen die Rückenlehne meines Stuhls gedrückt, und atmete heftig. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mir darüber klar wurde, dass das Dröhnen in meinen Ohren das Schlagen meines eigenen Herzens war.
    Ohne etwas sehen zu können, ertastete ich den Rand eines Tischs. Meines Schreibtischs. Unter meinen Fingern spürte ich die Seiten des Italienischbuchs, und plötzlich durchzuckte mich ein stechender Schmerz, der mir einen kleinen Schrei entlockte.
    Ich führte die Kuppe meines Ringfingers zum Mund: Sie schmeckte nach Blut.
    Die Erinnerung an den Traum, aus dem ich gerade erwacht war, schnürte mir die Kehle zu. Ich schüttelte mich, um sie zu vertreiben.
    Ich musste beim Lernen eingeschlafen sein, und der Stress und die Nervosität des Tages hatten sich in einen schrecklich lebendigen Albtraum verwandelt. Ich atmete tief durch: Ruhig, Veronica, ganz ruhig. Es ist alles gut. Du bist in deinem Zimmer; es gibt keinen Wald, und es gibt auch kein verirrtes Kind. Alles ist ganz normal.
    Aber warum war es dann so dunkel?
    Vielleicht hatte ich ja bis tief in die Nacht geschlafen, aber ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, das Licht ausgeschaltet zu haben.
    Ich streckte erneut die Hand aus und tastete vorsichtig die Tischoberfläche vor mir ab, wo sich ein Teppich aus winzigen Glasscherben zu befinden schien.
    Mit einer Klarheit, die mich angesichts der Umstände überraschte, begriff ich: Die Glühbirne meiner Schreibtischlampe war explodiert. Ich hatte sogar das Flackern wahrgenommen, in dem Moment, als ich aufgewacht war. Wahrscheinlich war es sogar genau das gewesen, was mich geweckt hatte.
    Ich sah mich im Dunkeln nach meinem Radiowecker um, aber statt des
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