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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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Mittelgebirge gezeichnet, die funkelnden Flussläufe, die Rehe, die ich im Sinkflug erkennen konnte und die Falken, die über dem Land rüttelten, um ihm etwas Nahrung abzuringen, und schließlich – Hamburg, Stadt der Lufthanse und Stadt der Flussschiffer. Auch Colonia war Mitglied des Hansebundes, aber Hamburg war seine Königin. Die Elbe war gefroren, wie es im Januar meist der Fall ist, und obwohl Eisbrecher den Hamburger Hafen eisfrei hielten, lagen alle Schiffe vor Anker und überwinterten. Der Luftschiffhafen aber mit seinen Dutzenden aufragenden Ankermasten war der größte des Deutschen Kaiserreichs und der ganze Stolz der Hanse. Zwischen ihm und dem Flusshafen erstreckte sich die Speicherstadt, in der auch viele der verschachtelten Backsteingebäude eigene Ankermasten für Frachtschiffe besaßen. Es wurde eine wunderbare Skizze, während unser Schiff langsam die Stadt umkreiste, um an den zugewiesenen Ankerplatz zu gelangen. Der graue Bleistift fing alles ein, was eingefangen werden musste, all diese triste, winterliche, industrielle, öde Schönheit.
    Meine Sitznachbarin – diesmal hatte ich keinen Sitz für Ynge reservieren können, und so saß sie auf meinem Schoß, während ich zeichnete – beugte sich mindestens einmal in der Minute zu mir herüber und sagte etwas, mit dem sie meinen Geist erweitern oder meine Skizze loben wollte. Leider verstand ich sie nicht, so sehr war ich in meiner Kunst versunken. So sehr wünschte ich, mich abzuwenden von allem, was Wirklichkeit war.
    Als ich die letzten Striche zog, gingen wir vor Anker. Ich hob den Kopf, als der Kabinenjunge seine stets gleichen Worte an uns richtete.
    „Sehr geehrte Gäste der Luftfeder – wir haben Hamburg erreicht und hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug.“
    „Nun verraten Sie mir doch Ihren Namen!“, quengelte die Dame neben mir, und ich entnahm ihrem Tonfall, dass sie diese Frage nicht zum ersten Mal stellte.
    „Naðan von Erlenhofen“, antwortete ich.
    „Werden Sie ein Gemälde anfertigen?“
    Ich musterte die Skizze und stand vor meinem üblichen Dilemma. Wie konnte ein Ölgemälde schöner sein als die schlichte, pointierte Poesie der Wirklichkeit – die Striche, in eben dem Moment gezogen, in dem sie Wirklichkeit waren? Sie würde das nie begreifen. Nur Æmelie hätte das verstanden.
    „Wollen Sie die Zeichnung kaufen?“, fragte ich hoffnungsvoll. Sie betrachtete sie mit einem Mal weitaus kritischer, als sie es zuvor getan hatte. Sie nahm mir den Bleistift aus der Hand und kritzelte ihren Namen samt Adresse in eine Ecke meiner Zeichnung. Sie war in der Hansestadt wohnhaft und hatte einen hässlichen Namen, an den ich mich nicht mehr erinnere, und sie schrieb ihn auf meine Zeichnung.
    „Nein, danke. Aber wenn das Gemälde fertig ist, schreiben Sie mir einen Brief, ja, Herr von Erlenhofen? Sie sind wahrhaft ein Künstler!“
    Sie stand auf und entfernte sich ein Stück den Gang hinunter, um vom Kabinenjungen ihr Gepäck entgegenzunehmen.
    „Wenn ich ein Künstler bin, dann ist auch die Zeichnung Kunst!“, rief ich ihr hinterher, während ich Block und Bleistift verstaute, und leiser murmelte ich zu Ynge: „Verdammt noch mal!“
    „Niemand wird dich verstehen, Naðan“, seufzte sie leise.

    Ich mietete mir ein Zimmerchen in der Nähe des Flughafens und sah meine Finanzen durch, während sich mir vor Kälte alle Haare sträubten. Ich befeuerte das kleine Heizöfchen, doch stets, wenn ich die gusseiserne Tür schloss, schien es all seine Hitze durch den Schornstein nach draußen zu schicken. Diesmal ließ ich die Klappe offen, kurz gab es mir die heimelige Atmosphäre eines Kamins, dann jedoch drang auch Rauch hinterher, den ein Windstoß durch den Schornstein herabdrückte. Hustend entfernte ich mich etwas vom Öfchen und ließ mich auf dem Bett nieder.
    „Vielleicht sollte ich wirklich ein Gemälde daraus machen und es ihr verkaufen. Was tue ich denn in Æsta ohne Geld?“
    Der Herr am Schalter des Flughafens hatte sich schlau machen wollen, was die schwimmende Stadt und ihre Position anging und wann das nächste Luftschiff – und inzwischen war mir egal, ob ich einen Platz auf einem Frachter oder in einem Passagierschiff ergatterte – dorthin abfuhr. Ich würde ihn am nächsten Tag noch einmal aufsuchen, und bis dahin konnte ich mich von der Muse küssen lassen. Ich streichelte Ynges Kopf.
    „Du könntest meine Muse sein und mich mit deinen Porzellanlippen küssen“, schlug ich vor. Sie antwortete nicht, und
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