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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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beiden Beinen auf dem Boden blieb, es sei denn, es ging um meine Kunst. Nun, gerade wagten Ynge und ich einen Höhenflug mit einem Luftschiff, und im Winter über die Alpen zu fahren, ist wahrhaftig kein Kinderspiel. Heftige Stürme spielten wie Kinder zwischen den vergletscherten Gipfeln, wirbelten den Schnee zu undurchsichtigen Nebeln auf, gefroren die Feuchtigkeit unseres Atems an den Scheiben und trieben das Luftschiff mal hierhin, mal dorthin – und mal auch in deutliche Schieflagen. Ynge machte das nichts, sie blickte aus dem Fenster, wiewohl es dort nichts zu sehen gab als Eisblumen und schneeweiße Einsamkeit. Ich jedoch übergab mich in eines der Eimerchen, die für jeden Passagier unter den lederbezogenen Sitzbänken bereitstanden. Ich übergab mich sogar noch, als ich nichts außer Schmerz und leeren Krämpfen erbrechen konnte. Schweiß stand mir auf der Stirn, und Ynges Blick war sehr mitleidig geworden. Der Blick des gestrengen älteren Ehepaares, das mir an dem polierten Tisch aus kostbarem Zedernholz gegenübersaß, war mittlerweile weniger mitleidig als vielmehr angewidert. Ich versuchte mich an einem entschuldigenden Lächeln. Ich war froh, als die Dunkelheit hereinbrach und ich wenigstens die wirbelnden Schneemassen nicht mehr sehen musste – wir würden noch in dieser Nacht das Münchner Flugfeld erreichen, daher hatte ich keine Kabine gemietet, sondern lehnte mich mit grollendem Magen zurück und schob mir gegen das Licht der Gaslampen, die nun die Sitzplätze erhellten, den Zylinder in die Stirn. Ich griff nach Ynge und drückte ihren Porzellankörper sanft an mich.
    „Danke“, sagte sie. „Du bist schön warm.“
    Zum Glück hatte niemand außer mir gewusst, dass Æmelie stets mit ihrer Puppe im Arm geschlafen hatte. Sonst hätte sie doch niemals jemand ernst genommen!

    Als wir in München vor Anker gingen, war ich gesundheitlich bereits wiederhergestellt. Mein Magen knurrte nach der versäumten Nahrung des Vortages gierig, als ich meine Tasche schulterte, Ynge in die Innentasche meines Mantels klemmte und einen letzten, zweifelnden Blick des Ehepaares entgegennahm. Schal, Mütze und Handschuhe schützten mich vor der schneidenden Kälte, als ich auf die metallene Plattform trat – und obwohl ich Kälte gewohnt war, schnitt sie nach dem verhältnismäßig milden venezianischen Winter wie Rasierklingen in meine bloße Haut.
    München lag im nächtlichen Schlummer. Die Gaslaternen zeichneten in der Ferne die Straßenzüge nach, das ein oder andere Fenster war bereits oder immer noch erhellt, aber der größte Teil der Stadt lag in der Dunkelheit hingestreckt unter einem endlosen Sternenhimmel.
    „Könnten Sie bitte weitergehen?“, fragte jemand hinter mir, denn ich blockierte den Ausstieg des Luftschiffs.
    „Entschuldigung. Ich kann wohl kaum verlangen, dass ich von diesem herrlichen Anblick eine Skizze machen kann, nicht wahr? Weil Sie es sehr eilig und keinen Sinn für … den Augenblick haben“, gab ich zurück.
    „Es ist kalt. Es ist doch wohl kein Verbrechen, ins Warme zu wollen, Sie impertinenter Mensch!“, gab die in üppige Pelze gehüllte Dame zurück, der der goldene Schmuck fast aus Ohren und Kragen herausquoll.
    Ich ging weiter und versuchte derweil, möglichst viel der schlafenden Stadt und der majestätischen Winternacht einzuatmen. Beim letzten Mal war es ein schneeverhangener Tag gewesen, als wir das Luftschiff in München gewechselt hatten. Æmelie war bei mir gewesen.
    Während ich die steile Treppe hinabstieg, die mich auf das Flugfeld bringen würde, schluckte ich das Gefühl hinunter, das mich immer überkam, wenn ich solche Sätze dachte.
    Æmelie war bei mir gewesen.

    „Ganz recht. Eine Luftschifffahrt nach Æsta.“
    „Das wird schwierig, gnädiger Herr.“
    „Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiterhin gnädiger Stimmung bin, wenn ich das Gefühl habe, dass Sie nicht Ihr Bestes geben, damit ich dorthin gelange.“
    Sie lächelte bang, und ich lächelte zurück. Ich gab mich manchmal strenger, als ich war. Das beeindruckte manche Leute.
    Die Frau am Schalter blätterte in ledergebundenen Ordnern nach meinem Zielort, ehe sie sich zu ihrem Kollegen hinüberbeugte. „Herr Messerschmidt, Æsta?“
    „Was, Æsta? Können Sie mir auch eine vernünftige Frage stellen?“, gab der Kollege zurück, den gerade die Frau im Pelzmantel anblaffte. An jenem Tag gaben sich aber auch wirklich alle sehr streng, so dass meine Schalterdame beinahe Tränen in den Augen hatte.
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