Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeit-Moleküle

Die Zeit-Moleküle

Titel: Die Zeit-Moleküle
Autoren: D.G. Compton
Vom Netzwerk:
hinterher sagen, Varco habe die Pillen selbst mitgebracht. »Ich werde dir ein paar Pillen holen. Du hast eine schlimme Zeit hinter dir Varco. Wenn du die Pillen nimmst, wirst du dich viel besser fühlen.«
    »Ich nehme keine Pillen. Mag sie nicht. Man weiß nie, was darin steckt. Mein Vater hat in seinem ganzen Leben keine Pille geschluckt. Hat sich im Wald selbst umgebracht. Starb wie ein Fuchs in der Falle.«
    Es war eine lächerliche Selbstparodie, wortwörtlich aus dem Buch. Karl beherrschte sich mühsam. »Du hast Pillen eingenommen, Varco. Eine Menge sogar. Ich weiß es ganz genau.«
    »Nicht eine einzige. Und ich fange auch gar nicht damit an.«
    Es schien, als wäre Varco entschlossen, bei seiner perversen Weigerung zu bleiben. Karl stand auf, packte ihn bei seinen breiten Schultern. »Lüge mich nicht an, Varco. Ich weiß, daß du Pillen eingenommen hast. Zum Beispiel die Pillen im Krankenhaus. Sie haben dir überhaupt nicht geschadet, oder?«
    »Im Krankenhaus?«
    Er sah, wie Roses’ Gesicht leer wurde.
    »Krankenhaus? Welches Krankenhaus soll denn das gewesen sein?«
    »Du weißt verdammt genau, welches Krankenhaus.«
    »Oh – du meinst, das Krankenhaus. Nun …«
    Karl hatte sich bisher immer gegen eine augenscheinliche Tatsache verschlossen. Und die möglichen Folgen dieser Tatsache. Er mußte sich ihnen jetzt stellen.
    »Du hast sie nie genommen.«
    »Hab sie in den Ausguß gekippt. Sie hat nie nachgeschaut, ob ich sie genommen habe.«
    »Vielleicht …« Es dämmerte. Was hatte sie gesagt, als sie das Laboratorium verließ? »Vielleicht wollte sie es gar nicht wissen. Vielleicht hoffte sie sogar, daß du sie nicht nehmen würdest.«
    »Ist das nicht verrückt? Gibt mir Pillen und hofft, daß ich sie in den Ausguß werfe?«
    Nein, nicht verrückt. Typisch Weib. Nein, nicht typisch Weib. Human.
    Er nahm die Hände von Roses’ Schultern, als würde er sie sich daran verbrennen. Er wich ein paar Schritte zurück, immer noch diesen sanften, unberechenbaren Tölpel anstarrend, den seine Mutter einmal geliebt hatte. Dieser Mann in der Raserei einer Nacht? Dieser Mann oder der tapsige Vierzig-Sekunden-Professor? Dieser Mann natürlich. Dieser Mann, den seine Mutter geliebt hatte.
    Und Roses war ein junger Mann, während er, Karl, ein behandelter Sechsundfünfziger war. Es war unmöglich. Ein Mann. Sein Vater.
    »Wie ich dir schon sagte, habe ich mir nie was aus Pillen gemacht. Mein Vater auch nicht. Er hat in seinem ganzen Leben keine einzige Pille genommen, mein Vater …«
    Roses verstummte. Er konnte ganz deutlich erkennen, wenn er nicht richtig ankam, und hörte dann auf zu reden. Auch jetzt war das der Fall. Er kratzte sich am Kinn, trat von einem Fuß auf den anderen und bewegte die Arme auf und ab. Dann summte er seine drei Noten und trat verlegen zur Seite. Er ging zum Tisch, wo das Buch lag, nahm es auf und setzte sich damit in eine Ecke, wo er sich unauffällig machen konnte.
    »Varco« – wie anders konnte er ihn nennen? »Varco – wir müssen dich von hier fortbringen.«
    »Ich gehe nirgends hin. Und auch keine Pillen.«
    »Nein, da hast du vollkommen recht.« Sentimental und schwach. »Nein, Varco keine Pillen.«
    Die Minuten seiner Halb-Stunden-Frist tickten unwiederbringlich dahin. Varco saß immer noch auf seinem Stuhl in der Ecke. Karl konnte seinen Hinterkopf sehen. Ab und zu blätterte er um, aber Karl bezweifelte, daß er eine einzige Zeile las. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt, als höre er etwas. Er fühlte das Buch, gab sich dem simplen elektronischen Wohlbehagen hin. Sobald Karl erkannt hatte, wer Varco war, hatte er sofort gewußt, was er jetzt tun mußte. Doch von diesem Moment an hatte Karl sich nicht mehr gerührt, war gelähmt von der verwirrenden, beängstigenden Intensität einer Gefühle.
    Doch am größten war das Staunen, das ihn ergriff. Vaterschaft war ein Betrug, ein Unglücksfall, ein Muskelkrampf. Das hatte man ihm sein ganzes Leben lang erzählt, und er hatte natürlich daran geglaubt. Was war denn das, ein Vater? Und was konnte ein Sohn für so einen Mann empfinden? Was sich auch zwischen Sohn und Vater entwickelte, es wuchs erst später, wurde geschaffen, war das Verdienst beider Teile. Und Roses Varco, der nichts geschaffen und sich nichts verdient hatte, dessen Beitrag zur Vaterschaft – wenn er dem Buch und damit seiner Mutter glauben durfte – noch tierischer als üblich und rein zufällig gewesen war, dieser Roses Varco (simpel, fast unerträglich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher