Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeit-Moleküle

Die Zeit-Moleküle

Titel: Die Zeit-Moleküle
Autoren: D.G. Compton
Vom Netzwerk:
seine Tochter hätte ihn zum Selbstmord getrieben. Clarice überlebte dieses Gerede, wie sie sich bereits siebzehn Jahre lang damit abgefunden hatte, daß man mit Fingern auf sie zeigte, weil sie die Tochter des Trunkenboldes Reuben Varco war.
    Clarice Varco überlebte, und als das nächste Kind nach ihr alt genug war, Verantwortung zu übernehmen, heiratete sie einen Schiffskoch. Der drehte ihr rasch hintereinander vier Kinder an und ließ sie dann sitzen. In ihrem Leben wiederholten sich die Schablonen, und vielleicht hielt sie diese Tatsache für ein sinnvolles Dasein.
    Die große Erschütterung in Roses’ Leben war vor sieben Jahren gekommen, als seine Mutter starb und er nach St. Kinnow ziehen mußte. Damals war er zehn Jahre alt gewesen und hatte als einziger von den vier Geschwistern seine neue Umgebung als abstoßend empfunden. Die vertrauten Dinge wurden ihm genommen und statt dessen verlangte man von ihm Fertigkeiten, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Deshalb bekam Clarice ihn immer seltener zu Gesicht, und der Haushalt mußte immer öfter auf das einzige Talent verzichten, das ihm angeboren war. Dafür hauste er – erst stundenweise, dann tagelang, schließlich auf unbefristete Zeit – in der moosüberwachsenen Hütte am Ende des Baches, die seinem Vater gehört hatte. Er hatte sich dort in der Küche mit den schimmelnden Möbeln eingerichtet, die Clarice verschmäht hatte.
    Die Jahre vergingen. Er hackte zwar regelmäßig den Efeu ab, ehe dieser das Dach und den Schornstein überwuchern konnte, war aber weder überrascht noch beunruhigt, als ein Septembersturm das halbe Dach abdeckte. Ein trockener Winkel im Haus genügte ihm, und der Zwischenboden über ihm garantierte ihm das. Wovon er lebte, wußte niemand zu sagen. Doch er litt nicht Hunger, und es gab Leute, die behaupteten, er hätte irgendwo unter den Dielen einen Geldschatz versteckt, den der alte, nichtsnutzige Reuben zusammengetragen hatte. Wenn dem so gewesen wäre, wäre Roses das einzige Familienmitglied gewesen, zu dem der alte Mann Zutrauen gehabt hätte. So absurd war das nicht, denn der arme, simple Roses war nie den fliegenden Bierflaschen ausgewichen und hatte dem alten Mann immer aufrichtige Liebe entgegengebracht.
    Roses teilte sein Heim mit ein paar mageren, hohnlachenden Katzen. Ihrer Meinung nach – und deshalb auch nach seiner Überzeugung – hatten sie den ersten Anspruch auf alle Bequemlichkeiten, die das Haus bieten konnte: auf den besten Platz am Feuer, die wärmste Stelle in seiner Decke, das magerste Stück Speck und den Rahm auf seiner Milch, wenn er mal eine Tasse voll davon ergatterte. Jetzt, da er auf der Mole saß und in seinem Buch las, lockte die Abendluft eine dieser Katzen ins Freie, die buckelte und dann auf der grasüberwucherten Pflastersteinstraße zum Strand lustwandelte. Als sie Roses’ ansichtig wurde, blieb sie stehen. Sie wußte, daß Roses, wenn er gereizter Stimmung war, Napfschnecken in ihren Schlupfwinkeln zwischen den Steinen überraschte und mit dem Messer loslöste. Und Napfschnecken waren, obwohl etwas zäh, ein Leckerbissen für die Katzen von Penheniot. Napfschnecken und frischgeborene Hasen, die sich die Katzen selbst jagten.
    Vielleicht warnte sie die Hingabe – um ihre Reaktion mit menschlichen Begriffen zu beschreiben –, mit der er die Seiten umblätterte, daß sie in diesem Augenblick nicht willkommen war, vielleicht lenkte sie auch eine fette Oktobermaus ab, die in den Sträuchern raschelte: Auf jeden Fall entging ihr eine Kette von Ereignissen, die für Penheniot (ja, für das ganze bekannte Universum) ungewöhnlich waren.
    Zuerst ereignete sich in Roses Varcos Küche eine sonderbare Explosion – oder Implosion oder Adplosion oder Intraplosion, was schwer zu unterscheiden war –, der ein Getöse vorausging, als käme ein Schnellzug durch die Hütte gebraust. Doch die nächste Eisenbahnstrecke war fünfzig Meilen vom Dorf entfernt und aus Rationalisierungsgründen längst eingestellt. Dann kam ein Schrei, der Schrei von einem Mann, der so rasch abriß, daß er keine Dauer besaß, einem geometrischen Punkt vergleichbar, der keine Ausdehnung besitzt. Dem folgte ein Auszug der Katzen aus der Küche, denen an wichtigen Stellen große Stücke Fell abhanden gekommen waren. Schließlich schloß das Ganze – wenn man die langsamen Reflexe von Roses zum Maßstab nimmt – mit einer gewaltsamen Erschütterung der Mole. So gewaltsam war die Erschütterung, daß die uralten Stützbalken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher