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Die Zeit-Moleküle

Die Zeit-Moleküle

Titel: Die Zeit-Moleküle
Autoren: D.G. Compton
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seine Igelstellung zurückzuflüchten. Die Bretter der Bühne knarrten. Das Plakat kitzelte hinter seinem linken Ohr. Er griff nach hinten und drehte es nach vorn unter sein Kinn.
    Jetzt wurden ihm auch kleine Unterschiede im Labor bewußt: Die Apparate standen nicht mehr an der alten Stelle. Neue Sachen waren hinzugekommen. Man hatte Metallständer auf dem Boden verteilt, die mit einer Silberschnur verbunden waren, so daß man einem vorgezeichneten Weg durch das Labor folgen mußte. Plaketten aus Metall waren hier und dort befestigt. Doch das, was darauf geschrieben stand, konnte er nicht entziffern. Und an den Wänden standen neue, mit Samt gepolsterte Bänke. Roses stieg von der Bühne herunter, kletterte über die Silberschnüre und ging vorsichtig bis an das Fenster heran. Er hatte das Gefühl, als durfte man hier nichts anfassen.
    Der Ausblick auf den Pill war von mächtigen Bäumen fast vollständig verstellt. Er reckte den Hals, damit er zwischen zwei Zweigen hindurchblicken konnte. Der Pill war sein Reich, er mußte wissen, daß der Fluß in seiner Nähe war. Er reckte sich auf die Zehenspitzen und sah Wasser, ein Stück Ufer, Eichengestrüpp – alles vertraut für ihn, sicherer Boden. Dann sah er das Heck eines Bootes, ein seltsames Gebilde, das er noch nie gesehen hatte. Er legte den Kopf schief und sah die bewaldete Landspitze, um die der Fluß eine Biegung machen mußte. Auch das war ihm vertraut, nur die seltsame schwarze Linie nicht, die quer über das Wasser verlief. Hinter der Linie war das Wasser rauh und bewegt, vor der Linie glatt wie ein Spiegel. Und der Himmel, von dem der Regen heruntertropfte, hätte eigentlich grau sein müssen. Doch er war wolkenlos blau.
    Angst und Neugierde hielten sich jetzt im Gleichgewicht. Trotzdem trat Roses jetzt fester auf, als er zur Tür ging. Durch die Glasscheibe sah er sonderbare Gebäude, seltsame Fahrzeuge, nichts, was er kannte. Er wich ein paar Schritte zurück und warf sich dann gegen die Tür, um sie aufzureißen. Sie war verschlossen. Er trommelte mit der Faust gegen das überraschend harte Glas, schrie, trat mit seinen zerschlissenen Turnschuhen gegen die Türfüllung. Er hatte Angst, schreckliche Angst. Dieser Ort war ihm unheimlicher als ein Zimmer, das ihm vollkommen fremd gewesen wäre. Diese Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem war wie ein Alptraum, und er brüllte, daß man ihn endlich herauslassen sollte.
    Als er schon fast blind war vor Tränen, erschien ein Gesicht hinter der Glastür. Ein männliches Gesicht. Ein Mann mit einem sonderbaren steifen, schwarzen Hut. Der Mann vor dem Labor mußte ein paarmal brüllen, ehe Roses sich so weit beruhigt hatte, daß er zuhörte.
    »Die Tür ist abgesperrt«, sagte er. »Ich muß erst den Schlüssel holen. Hab keine Angst! Ich muß mir erst den Schlüssel besorgen. Ich bin spätestens in einer Minute wieder zurück. Hab keine Angst.«
    Er wiederholte diese Worte so oft, bis Roses sie kapiert hatte. Dann ging der Mann fort.
    Nachdem ein Anlaß zur Panik – die verschlossene Tür – beseitigt war, war auch das andere nicht mehr so bedrückend. Roses hatte jemand gefunden, der sich um ihn kümmerte, der ihm sagte, er brauche keine Angst zu haben. Und das Tal war immer noch sein Tal. Auch früher schon hatten sie alles mögliche darin geändert, aber es blieb dasselbe Tal, unter den Dingen, die sich veränderten. Er wendete sich von der Labortür ab, vor der bedrohlichen Unvertrautheit da draußen. Er bewegte sich unsicher. Seine Furcht blieb in Sichtweite, und er suchte jetzt Schutz bei den Dingen, die er kannte. Er tastete über das Schußloch in seinem Hemd, blickte sich ängstlich um, ob ihn nicht noch andere Schrecken im Labor erwarteten. Ein Tisch war vor einen Computer gerückt. Und auf dem Tisch, unter einem Glassturz, lag ein Buch.
    Er ging langsam auf den Tisch zu, voller Erwartung und unbegründeter Freude. Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Das war das Buch, das er vor zwanzig Jahren zerstören wollte und zum letztenmal gesehen hatte, als es auf den Wellen des Penheniot Pill in der Dämmerung davontrieb. Er lehnte sich gegen den Tisch und starrte hinunter in den Glassturz. Auf dem Tisch war eine Plakette befestigt, deren Inschrift er lesen konnte: Die unsterbliche Geschichte von Penheniot und seinen Bewohnern. Mit bebenden Fingern hob er den Glassturz an. Er berührte das Buch mit den Fingerspitzen und erlebte das gleiche elektrisierende Gefühl wie damals. Er nahm das Buch in die Hand,
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