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Die Zeit-Moleküle

Die Zeit-Moleküle

Titel: Die Zeit-Moleküle
Autoren: D.G. Compton
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simpel) löste im Herzen seines Sohnes ein überwältigendes, vollkommen unbegreifliches Gefühl aus. Deswegen war Karl, der in der Rationalisierung dieses Gefühls einen Ausweg suchte, auch so erstaunt.
    Doch er wußte, was jetzt getan werden mußte. Er kannte auch die philosophischen Einwände. Seine Mutter hatte sie selbst entwickelt, ironischerweise zusammen mit der letzten Phase ihrer Forschungsarbeit, so daß das letzte, ihr Werk krönende Experiment nicht mehr durchgeführt wurde. Und erst dann hatte David Silberstein, jungfräulich und verschämt, sein Geheimnis preisgegeben, das er fünfzehn Jahre lang so streng gehütet hatte und das seine private Hoffnung nährte. Die Theorie seiner Mutter hatte man jetzt auf ein anderes Ziel angesetzt, auf die Probleme des Alterns. Und David Silberstein hatte sich dann, was er der Sachlage nach schon vor Jahren hätte tun sollen, selbst umgebracht. Genauso undelikat, wie er gelebt hatte.
    Die philosophischen Einwände bleiben. Doch Karl argumentierte verzweifelt, daß die gegenwärtige Situation – ein achtunddreißigjähriger Mann im gleichen Zimmer mit seinem sechsundfünfzig Jahre alten Sohn – philosophisch betrachtet, nicht weniger unwahrscheinlich war. Und er wußte, was hier getan werden mußte.
    Die Geschichte lehrte, daß es einmal ein goldenes Zeitalter gegeben hatte. Selbst in den perversen Schriften jener Epoche (wie verbittert, wie irreführend konnten Künstler schreiben, wenn ihre destruktiven Neigungen nicht von der Kirche oder dem Staat überwacht wurden!), selbst in den ätzenden Leitartikeln der Zeitungen und in den schlimmen Büchern schimmerte diese Wahrheit durch. Es hatte einmal ein goldenes Zeitalter gegeben, eine Zeit, als die menschliche Natur die Schlacht mit sich selbst fast gewonnen hätte. Ein goldenes Zeitalter, eine kurze Zeitspanne, ein halbes Lebensalter lang, um so köstlicher, weil es am Rand des Chaos balancierte. Und Karl hatte von Anfang an gewußt, daß er seinen Vater dorthin schicken mußte. Zurück hinter den Anfang seines eigenen Lebens. Dorthin zurück, wo er sicher sein würde. Dorthin zurück, wohin er gehörte.
    Karl zwang sich zum Handeln. »Varco«, sagte er und drückte sich so aus, daß sein Vater ihn auch verstehen konnte, »Varco, die Dinge scheinen für sich schiefgelaufen zu sein.«
    »Das mag stimmen.«
    »Ich glaube, sie gingen von dem Augenblick an schief, als du dich auf den Stuhl auf der Startbühne gesetzt hast. Ich glaube, wenn du dich noch einmal dorthin setzt, können wir das alles wieder berichtigen …«
    Es war so einfach, so schrecklich einfach. Karl begriff, daß man Roses Varco mit Geduld zu allem überreden konnte. Solange ihm das Buch Behagen und Wärme spendete, würde er überall hingehen und alles für ihn tun. Er saß auf dem Stuhl, drückte das Buch an die Brust und sah gleichgültig zu, wie Karl die komplizierte Maschine bediente. Draußen regnete es noch immer. Nach dem Regenplan würde es noch fünfzig Minuten so weiternieseln. Und die Hauptstadt – stark befestigt, uneinnehmbar, von einem Gewölbe geschützt – ging ihren stillen Geschäften nach. Dazu gehörte auch die Untragbarkeit dreier Wächter. Das Gesetz der Gewalt, das alles im Gleichgewicht hielt.
    Karl überließ seinem Vater das Buch. Er würde seinem Vater alles gewährt haben, doch das Buch konnte er am leichtesten entbehren. Es war die Unsterblichkeit seiner Mutter.
    Liza stand in der Tür und sah schweigend zu, wie ihr Sohn die letzten Vorbereitungen zum Start machte. Sie hinderte ihn nicht daran. Dazu hatte also ihre Erziehung geführt. Mitleid. Es konnte nichts anderes sein als Mitleid. Mitleid, vor die Anforderungen des Staates gestellt. Sie hatte ihn dazu erzogen, woanders seine Befriedigung zu suchen. Und hier hatte er endlich einen Weg gewählt, um ihr zu trotzen. Sie ließ ihn gewähren, bewahrte ihre Macht bis zuletzt.
    Von der Schwelle des Labors aus konnte sie das Buch nicht sehen, nur Roses’ Rücken, breit, stark und sinnlich erregend, gebückt in seiner typischen Haltung der Demut. Es war eine täuschende Pose, hinter der sich etwas Unbeugbares verbarg. In siebenundfünfzig Jahren war sie dem Haß entwachsen. Der Liebe ebenfalls. Ihr Sohn schickte Roses zurück in seinen Untergang. Doch ein verschwundener Spion war auch eine Lösung. Ein verschwundener Spion – verschwunden unter verräterischen, manipulierten Umständen – war sogar noch besser als ein lebender Spion, der sich in einem Prozeß noch wehren
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