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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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anstellte, war die Einzige, die verschont blieb. Wir anderen mussten uns nebeneinander auf die beiden Besen knien, die sie auf den Boden gelegt hatte. Wer zuckte, einknickte oder sonst irgendwie herumturnte, offenbarte sich als Täter. Ich war damals sieben. Das Holz bohrte sich zwischen meine Kniescheibe, ich dachte, ich müsste auf der Stelle sterben. »Ihr werdet so lange hier knien, bis ich weiß, wer den Pudding gegessen hat!«
    Ich hielt die Schmerzen nicht mehr länger aus, wollte nur noch, dass es aufhört. Mit leiser Stimme sagte ich: »Mama, ich war’s, ich hab den Pudding gegessen!«
    Während die anderen aufstehen durften, musste ich knien bleiben. Ich heulte, verzweifelt über diese Ungerechtigkeit.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ mich meine Mutter aufstehen. »Das war dafür, dass du so lange gewartet hast. Du bist schuld daran, dass die anderen so lange auf den Besen ausharren mussten. Merk dir das, alles hat Konsequenzen!«
    Als ich aufstehen wollte, kam ich nicht hoch. Es gelang mir nicht, die Beine auszustrecken. Kathi hakte mich unter und brachte mich ins Kinderzimmer, wo ich mich schniefend und mit höllisch schmerzenden Knien im Bett verkroch. Nach einer Weile kam Maik nach oben und strich mir über den Kopf. »Es tut mir leid, das hab ich nicht gewollt. Ich war einfach zu feige.« Ich habe ihn nicht verraten.
    Und wie ich meine Mutter manchmal hasste. Vor allem in der Zeit, als ich in die Pubertät kam. Wenn mich, ohne dass ich es kontrollieren konnte, Gefühle von Wut und Traurigkeit überrollten. Ich sehnte mich nach Vertrautheit und Geborgenheit und hätte doch keines von beidem ertragen. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Ich fühlte mich nicht geliebt, unverstanden, einfach nutzlos. Ich stellte alles in Frage, hatte überhaupt keinen Blick dafür, was unsere Mutter alles auf sich nahm, um uns überhaupt ein Leben zu ermöglichen. Leben? Was für ein Scheißleben sollte das schon sein? Ein hartes war es, vor allem für meine Mutter. Sie hatte ein ganzes Jahr lang einen kranken Mann gepflegt, war trotzdem arbeiten gegangen und hatte mehrere Kinder auf den Weg bringen müssen, die jüngsten zwölf und dreizehn. Ein Scheißleben, aber dafür hatten wir keinen Blick. Für uns war sie nur der Feldwebel, kalt und streng. Je größer das Durcheinander in meinem Inneren wurde, umso mehr begehrte ich gegen dieses Regiment auf. Keine Ahnung von nichts, nur die Gewissheit, dass alles so wahnsinnig ungerecht ist. Die Forderungen so überzogen, alles eine Einengung, aus Fleiß, nicht aus Sorge. Und sie war diejenige, die uns das Leben verbaute, so wie Sandy und ich das wollten. Mit ihrem Glauben, mit ihrem Pflichtgefühl, mit ihrer Strenge. Ich wollte frei sein oder tot. Da konnte ich mich nicht so recht entscheiden.
    Als sie nach dem Umzug nach Leipzig eine Zeitlang wieder zu trinken anfing, war es ganz aus. Vorbei die kurze Phase, in der wir uns angenähert hatten, von jetzt an standen die Zeichen auf Sturm. Wer war sie denn, uns Vorschriften zu machen? Sie konnte an manchen Tagen kaum stehen, Feldwebel in Schräglage, haha. Ich weiß noch, wie sie mich an einem Nachmittag, als ich mit gefärbten Haaren aus der Stadt kam, am Genick packte und unter den Wasserhahn drückte. Immer wieder, so lange, bis dieser sündhafte Farbton rausgewaschen war, bis ich meine Kopfhaut nicht mehr spürte. Kalt, kalt, alles war kalt. Die Achtung, all die schönen Momente mit ihr, die wir auch gehabt hatten, als wir noch eine intakte Familie gewesen waren – weggewaschen, im Ausguss verschwunden.
    Von da an war Kampf, wir fanden keinen gemeinsamen Nenner mehr.
    Sandy und ich suchten nach Schlupflöchern, nach kleinen Fluchtmöglichkeiten. Anfangs waren das nur kleine Sachen, der übliche Pubertätskram. Wir hatten zunächst unser gemeinsames Schlafzimmer zur Straße hinaus, die Wohnung lag im Erdgeschoss. Weil wir immer die Ersten waren, die nach Hause mussten, verabredeten wir uns kurzerhand unter unserem Fenster. Wenn unsere Mutter anrollte, konnten wir immer noch sagen: »Was willst du eigentlich, wir sind doch zu Hause?« Es dauerte eine ganze Weile, bis sie von dem Spektakel überhaupt etwas mitbekam. Zur Strafe mussten wir innerhalb der Wohnung umziehen, in ein Zimmer mit Fenster zum Innenhof.
    Unsere nächsten »Ausbruchsversuche« waren schon etwas massiver. Sandra, mit der ich mich in dieser Zeit immer heftiger stritt, haute 1991 zum ersten Mal ab. Über mehrere Wochen hinweg verschwand sie immer wieder, auch
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