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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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Bruder beinahe mal unseren Hof abgefackelt. Er kokelte mit Freunden am Misthaufen herum, der weniger aus Dung als aus Einstreu, Küchenabfällen und Papier bestand. Das Zeug wollte nicht recht brennen, die Jungs gaben auf und trollten sich. In der Nacht wurden wir von einer lauten Sirene geweckt, Nachbarn hatten den brennenden Haufen entdeckt und die Feuerwehr gerufen. Es gab Hausarrest und ziemlichen Ärger für die »Brandstifter«. Als Maik 1986 auszog, um eine Lehre zu beginnen, waren Sandy und ich die letzten zwei, die noch zu Hause wohnten.
    *
    Als ich zwölf war, erkrankte mein Vater schwer. Krebs. Er war meine wichtigste Bezugsperson, in meiner Erinnerung ist er ein sehr liebevoller, ruhiger Mann gewesen, der es sogar schaffte, mich zum Lachen zu bringen, wenn ich traurig war. Und das war ich oft. Wir alberten viel herum, und ich weiß noch, wie wir immer Boxkämpfe veranstalteten, bei denen ich ihn mit meinen dürren Armen schwungvoll zu Boden streckte. Wenn Sandra und ich nachts heimlich aus dem Bett krabbelten und – wahrscheinlich für alle hörbar – leise die knarrende Holztreppe hinunterschlichen, um durch einen Spalt in der Wohnzimmertür einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen, zwinkerte er uns zu und ließ uns eine Weile gucken, bevor wir »offiziell« erwischt und wieder ins Bett gesteckt wurden.
    Ansonsten sind mir nur wenige Dinge heute noch lebhaft in Erinnerung. Dass er gern Elvis hörte zum Beispiel und immer ganz aufgeregt war, wenn ein Song im Radio lief. Dass ich nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, zu ihm ins Bett kriechen durfte. Und dass er einmal unsere Dogge mit meiner Mutter verwechselte. Der Hund kam manchmal nachts ins Schlafzimmer der Eltern und quetschte sich dann auf die Ritze im Ehebett. Als mein Vater den Arm um seine Frau legen wollte, wurde er mit einem lauten Knurren bedacht. Über solche Geschichten konnten wir uns kringelig lachen.
    Die Zeit seiner Krankheit war für uns alle hart. Meine Mutter pflegte ihn ein Jahr lang zu Hause, wir bekamen Tag für Tag mit, wie er weniger wurde.
    Der Tag, an dem mein Vater starb, ist mir heute noch so deutlich im Kopf, als sei es erst gestern geschehen.
    An diesem Tag schien alles schiefzugehen, was ich anpackte. Sandra und ich sollten für ein paar Tage bei einer Freundin unserer Mutter übernachten; wir hatten lange an sie hingeredet, bis sie ihre Erlaubnis dazu gegeben hatte. Während meine Schwester schon am Packen war, kämpfte ich mit der Steckdose in unserem Zimmer. Ich war über das Kabel der Nachttischlampe gestolpert, nun hing die ganze Konstruktion aus der Wand. Ich wollte nicht, dass es deswegen Stress gab, und mühte mich nach Kräften, die Steckdose zurück in die Wand zu drücken.
    Sandy maulte: »Jetzt pack endlich deine Tasche, ich will los!«
    »Reg dich ab, ich hab’s ja gleich!«
    Im nächsten Moment bekam ich einen Schlag auf die Finger, der mich richtig umhaute. Ich dachte, der Kopf fliegt mir weg, alles kribbelte.
    Sandy starrte mich entgeistert an: »Was ist denn mit dir los?«
    »Ich glaub, ich hab ’nen Stromschlag gekriegt«, sagte ich etwas benommen.
    »Ach, du spinnst ja!« Sie rollte genervt die Augen und packte weiter.
    Ich entschied mich, nun doch die Finger von der Steckdose zu lassen und meinen Kram für die Übernachtung in die Tasche zu stopfen. Meine Schwester, die längst fertig war, beobachtete mich skeptisch von ihrem Bett aus. »Du wirst ja doch wieder die Hälfte vergessen«, murmelte sie, als plötzlich die Tür aufging.
    Meine Mutter und Karli, ein Freund der Familie, kamen ins Zimmer. Das war ungewöhnlich. Seit sich der Zustand meines Vaters rapide verschlechtert hatte, war sie auch über Nacht immer im Krankenhaus geblieben. Karli, der sich in den letzten Wochen, als mein Vater schon nicht mehr in der Lage gewesen war aufzustehen, bei der Pflege mit meiner Mutter abgewechselt hatte, war inzwischen fast bei uns eingezogen. Auch damit er einmal wieder daheim schlafen konnte, war unsere Übernachtung bei der Freundin arrangiert worden. Dass sie nun beide da waren, konnte nichts Gutes bedeuten.
    Ich hielt beim Packen inne und blickte zur Tür. Ich sah in ihre Gesichter, in ihre Augen. Niemand sagte etwas, niemand rührte sich. Für einen Moment stand die Zeit still. Ich musste würgen. Konzentrier dich. Pack weiter. Das geht vorbei. Es ist nichts passiert, sie sind einfach nur so da, alles ist gut. Mein Herz klopfte bis zum Hals, das Blut pochte in meinem Kopf. Wenn du jetzt diese Hose
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