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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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in die Tasche packst, wird nichts passiert sein. Los, du Scheißding, geh rein, verdammt noch mal. Der Reißverschluss klemmte. Das Ratschen zerschnitt die Stille. Gleich, gleich würde das Schwert auf mich niedersausen. Die Gewissheit, dass es vorbei war. Ich spürte, wie meine Augen anfingen zu brennen.
    Dann sauste das Schwert durch die Luft.
    »Hör auf zu packen!«
    Ich hatte genau gehört, was Karli gesagt hatte, und konnte dennoch nicht aufhören.
    Meine Schwester hockte wie versteinert auf dem Bett und verzog keine Miene. Meine Mutter bat sie, mit nach draußen zu kommen. Als die Tür hinter ihnen zufiel, schrie Karli mich an: »Hast du mich nicht verstanden? Hör endlich auf zu packen!«
    Ich zuckte zusammen, drehte mich um und schaute ihn an.
    Diese Stille, diese gottverdammte Stille. Sie tat so weh.
    Von draußen drang ein leises Weinen und Wimmern durch die Tür.
    Nein, es kann nicht sein, Sandy hat bestimmt etwas ausgefressen, deshalb hatte sie auch mit rausgehen müssen, ist ja klar. Muss etwas Schlimmes gewesen sein, sonst würden sie ja nicht zu zweit hier Strafgericht halten. Genau.
    Karli sagte mit zitternder Stimme: »Es tut mir so leid.«
    Und das Schwert schlug eine tiefe Furche durch mein Herz.
    Ich sah ihn an und fing an, unkontrolliert zu schreien. Ich schlug auf ihn ein, hämmerte ihm auf die Brust, schlug um mich, bis ich heulend zu Boden sank. Karli kniete sich hin und drückte mich fest an sich. Dann weinten wir gemeinsam.
    Ich hatte geglaubt, ich wäre auf diesen Moment vorbereitet. Seit sie Papa zum letzten Mal abgeholt hatten, war klar gewesen, dass er vielleicht nicht mehr nach Hause kommen würde. Wir hatten tschüs gesagt, wie man halt so tschüs sagt, wenn man überfordert ist mit der Situation. Bis gleich, mach’s gut. Ja, nach der Schule dann, hm. Wird schon. Scheiße. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Schmerz man empfinden kann. Und ich hatte keine Ahnung, wohin damit.
    Karli sagte immer wieder: »Es tut mir so leid, es tut mir so leid.«
    Ich konnte überhaupt nichts sagen. Ich zitterte am ganzen Körper und hatte gleichzeitig das Gefühl, ich hätte Blei in mir und könnte nie wieder aufstehen.
    Nach einer Weile nahm Karli mein Gesicht in seine Hände, sah mich an und wischte mir hilflos die Tränen mit dem Ärmel weg.
    »Ich bin doch erst zwölf«, stammelte ich. »Wieso?«
    Karli drückte mich fest an sich und sagte: »Er muss jetzt nicht mehr leiden und diese verdammten Schmerzen ertragen.«
    Ich weiß, dass mich diese Worte trösten sollten, aber irgendwie machten sie alles nur noch endgültiger. Ich vermisse meinen Vater heute noch, fast 25 Jahre später, manchmal sogar mehr als früher.

Alles anders
Veränderung ward an der Zeit
Und forderte schmerzlich ihren Tribut
Verloren, was ich am meisten brauchte
Die Hölle dunkel und der Himmel zu weit
    Nach dem Tod meines Vaters im April 1989 waren wir nur noch zu dritt. Sandy, meine Mutter und ich. Ein halbes Jahr später fiel die Mauer. Unsere kleine Familienwelt war ohnehin in Auflösung, nun kam auch noch die Welt drum herum dazu. Ich war dreizehn Jahre, als ich im Fernsehen sah, wie Menschen in Berlin auf die Mauer kletterten, euphorisch und unsicher zugleich, was der nächste Tag bringen würde. Ob die neue Freiheit, ob die endlosen Trabi-Kolonnen von Ost nach West von Dauer sein würden. Was danach tatsächlich passierte, davon hatte ohnehin keiner eine Vorstellung. Auch wir drei hielten uns in den Armen, überwältigt von Freude und Trauer. Trauer darüber, dass der Mensch, der sich diesen Augenblick jahrzehntelang herbeigesehnt hatte, die Grenzöffnung nicht mehr erleben konnte. Auch meine Großmutter nicht, Harriette starb 1987, ohne ihren Sohn jemals wiedergesehen zu haben.
    Für uns bedeutete der Mauerfall bei aller Freude in erster Linie Veränderung. Viele LPG -Betriebe auf dem Land wurden in den Jahren nach dem Mauerfall geschlossen, auch meine Mutter verlor ihre Arbeit. In der Hoffnung, dass in der Stadt die Chancen besser stünden, zogen wir zurück nach Leipzig. Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Mutter uns die Entscheidung ganz gut verkaufte. Wir alle bräuchten Abstand von dem, was geschehen war, und hätten doch als »Weiberhaushalt« die besten Möglichkeiten, in der »Großstadt« wieder Fuß zu fassen.
    Sandra und ich waren uns ausnahmsweise einmal einig. Normalerweise waren wir wie Hund und Katze, den Umzug aber fanden wir gut. Vorbei die Zeit des Landlebens, wir waren jung und wollten die
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