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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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über Nacht. Ich bekam den ganzen Ärger ab, es war ja sonst keiner da. Die Situation zu Hause verschlimmerte sich so sehr, dass ich mich nach der Schule bei Freunden oder auf der Straße herumdrückte. Ich wollte nicht zurück in die Wohnung, ertrug die Vorwürfe und Schreiereien nicht mehr. Gleichzeitig hatte ich ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Ich fühlte mich verantwortlich für meine Mutter, die nun wieder regelmäßiger trank. Ich wollte nicht, dass andere sie so sahen, vor allem nicht ihr neuer Bekannter. Allein oder zusammen mit Sandy versuchte ich, sie wieder nüchtern zu bekommen, bevor Jakob nach der Arbeit bei uns zu Hause vorbeischaute. Sie hatte ihn ein paar Monate nach unserem Umzug in der Gemeinde kennengelernt.
    Er war gläubig, aber nicht so spießig und streng. Ich mochte ihn und freute mich anfangs, wenn er zu Besuch kam. Das änderte sich, als ich bemerkte, dass die beiden sich verliebt hatten. Damit konnte ich überhaupt nicht umgehen.
    Ich hatte den Verlust meines Vaters noch lange nicht verarbeitet, er fehlte mir an allen Ecken und Enden. Ich verstand nicht, wie sie in ihrem Herzen nach so kurzer Zeit schon wieder Platz haben konnte für einen neuen Mann. Für mich war er von diesem Moment an nur noch ein Eindringling, einer, der unseren »Weiberhaushalt« kaputtmachen würde. Natürlich war unsere Dreisamkeit längst am Bröckeln, aber an ihm konnte ich all das festmachen, was schlecht lief. Sie scheuchte uns herum? Klar, damit sie ihm zeigen konnte, dass sie uns pubertierende Gören im Griff hatte. Sie trank? Klar, er hat sie zu schnell in eine neue Beziehung gedrängt. Ich war blind vor Wut und konnte nicht fassen, dass dieser Mann nun die Rolle meines Vaters übernehmen sollte. Für meine Mutter mochte er ein Ersatz gewesen sein, für mich hätte niemand diese Lücke füllen können. Es tat weh, dass das Leben einfach so weiterging. In klaren Momenten wusste ich, dass ich mich für sie hätte freuen sollen. Sie lachte wieder mehr, und in den letzten pflegeintensiven Monaten vor Vaters Tod war sie körperlich und psychisch sicher über ihre Grenzen gegangen. Zeit für Gefühle, Zeit für sich hatte sie nicht. Sie war oft gereizt, manchmal wischte sie eilig, fast ärgerlich Tränen aus dem Gesicht, wenn jemand hereinkam. Nach außen tat sie so, als sei alles in bester Ordnung. Ein Opfer der Umstände.
    Jakob bemühte sich um uns, aber je mehr er sich kümmern wollte, umso ablehnender reagierte ich. Ich stellte alles, was er sagte, in Frage, ich provozierte ihn, wo ich nur konnte, und wenn er dann darauf einstieg, triumphierte ich. Wir hätten reden sollen. Versuchen, zu verstehen, was den anderen bewegte. Aber ich wusste ja selbst nicht, was mit mir los war. Dass ich mit dem Tod meines Vaters nicht klarkam und dass das mit Jakob überhaupt nichts zu tun hatte, verstand ich erst später. Ich glaube auch nicht, dass ich mich auf ein Gespräch eingelassen hätte. Ich war so voller Trotz und so verletzt, so bemüht, die Fassade zu wahren, dass mir das völlig die Füße weggezogen hätte. Bloß keine Gefühle zeigen, bloß nicht schwach sein.
    Alles um mich herum löste sich auf. Die Familie, das Land meiner Kindheit, nirgends Struktur, nirgends ein Halt. Ich zog mich immer mehr zurück in meine düstere Gedankenwelt. Wenn ich meine Wut und Verzweiflung nicht auf Jakob oder meine Mutter richten konnte, richtete ich sie gegen mich. Ich machte mich für alles, was schlecht lief, verantwortlich. Ich bin schuld. Ich bin nutzlos, wertlos, ein Nichts. Allein auf der Welt, unverstanden, ungeliebt. Was man halt so denkt mit vierzehn. Ich hockte in meinem Zimmer, hörte dröhnend laut Musik und dachte, wenn ich mich jetzt umbringe, wird das keinen jucken. Ein Problem weniger. Denn ich war ja das Problem, ohne mich hätten sie sicher viel mehr Spaß, alles wäre einfacher. Aber ich traute mich nicht.
    Stattdessen haute ich immer wieder ab, blieb auch schon mal über Nacht weg. Vor allem freitags ging ich nach der Schule nur ungern nach Hause. Ich wusste, dass meine Mutter auf mich wartete, damit wir gemeinsam aufs Land fahren konnten. In unser altes Haus in Rathendorf, das sie seit unserem Umzug als Wochenendhäuschen nutzte. Ich fand allein schon den Gedanken unerträglich, dass sie mit ihrem Partner in das Haus fuhr, in dem für mich die Welt noch in Ordnung gewesen war. Das Haus meiner Kindheit, das Haus meines Vaters. In meinem Schwarz-Weiß-Denken beschmutzte sie damit das Andenken an
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