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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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der Gemeinde konnte mein Vater ein Haus erwerben, in der Dorfstraße 14. Auf dem gleichen Grundstück befand sich das Gemeindezentrum der Adventisten, denen meine Eltern inzwischen fest angehörten. Arbeit fanden sie in der örtlichen LPG , wieder im Schichtbetrieb, weshalb die älteren Geschwister in die Pflicht genommen wurden. Sie sollten auf uns aufpassen, was manchmal ganz gut ging, dann aber auch wieder voll in die Hosen.
    Ich fand die Zeit auf dem Land klasse. Zumindest für ein paar Jahre. Wenn wir freihatten, stromerten wir durch die Wälder und suchten Pilze und Beeren oder liefen zu Fuß nach Geithain ins Schwimmbad oder an den See im Hegewald. Wenn wir nicht draußen unterwegs waren, zog ich mich schon damals gerne zurück, um zu malen oder zu lesen. Außerdem wurde regelmäßig eine Musikstunde abgehalten. Jedes von uns Kindern erlernte ein Instrument, die Jungs spielten Posaune, die Mädchen Trompete. Weil ich unter Asthma litt, war das nur ein kurzes Intermezzo, die Trompete wurde durch ein Klavier ausgetauscht. Einmal pro Woche kam Herr Kaufmann, um mich zu unterrichten. Jedes Mal aufs Neue kritisierte er meine Haltung – »Du hängst wie ein Kartoffelsack auf dem Stuhl« – und meckerte, wenn ich auf die Finger sah und nicht auf das Notenblatt. Noten kann ich bis heute nicht wirklich gut lesen, aber ich spiele gern.
    In der Grundschule in Rathendorf und später in der weiterführenden Schule in Obergräfenhain setzte sich mein Außenseitertum fort. Ich war so zurückhaltend und schüchtern, dass ich meine Freunde an einer Hand abzählen konnte. Auch dort war ich die kleine Dünne mit den strohblonden, fransigen Haaren und der krakeligen Schrift, über die sich alle Lehrer immer ausließen. Meine Punkte auf dem »i« waren »Fliegenschisse«, das Geschmier nicht lesbar, ratsch und raus mit der Seite, das Ganze noch mal. Ich konnte die Zeilen nicht richtig halten, wegen des Wechsels von links auf rechts, und wurde mit Vorliebe an die große Tafel gerufen, wo ich überhaupt keine Chance hatte, mich zu orientieren.
    Hinzu kam, dass ich schon allein aufgrund meiner Familie zum Außenseiter gestempelt wurde. Meine Eltern waren gläubige Christen in einem Staat, der Religion generell nicht gut fand. Wir standen unter Stasi-Beobachtung wegen der Großmutter, wir Kinder wurden nicht in die Jugendorganisationen der Partei aufgenommen. Warum, das wussten wir nicht. Immer wieder wurde ich aus dem Unterricht geholt und musste beim Direktor antanzen, um »Fragen« zu beantworten. Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Aber ich war stinkwütend, dass ich bei den Schülerspartakiaden nie eine Medaille bekam, weil ich nicht bei den Pionieren war. Und dass ich meinen Eltern bittere Vorwürfe gemacht habe, dass ich nicht auf die Sportschule gehen durfte, obwohl ich in Leichtathletik die Beste in der Klasse war. Das war eine Demütigung, die ziemlich an mir nagte. Die Gründe dafür konnte ich mir nicht erklären. Die Stasi war ebenso abstrakt wie der Glaube meiner Eltern. Für uns gehörte das zum Alltag, wir freuten uns auf den Kindergottesdienst, und zu Hause malten wir mit Buntstiften Heftchen aus, in denen Geschichten aus der Bibel erzählt wurden. Abends beteten wir gemeinsam, und wenn wir nicht spurten, mussten wir schon mal eine Passage aus der Bibel auswendig lernen. Auch dass wir Freitag Badetag hatten, hing mit dem Glauben der Eltern zusammen. In anderen Familien war der Samstag dafür vorgesehen, aber da begehen die Adventisten den Sabbat.
    Meine Eltern begegneten kritischen Blicken im Ort selbstbewusst. Sie hatten in der Gemeinde Halt gefunden, einen Alkoholentzug gemacht und ein zweites Mal geheiratet, nach den Grundsätzen des neuen Glaubens. Ich selbst merkte zum ersten Mal im Sachkundeunterricht, dass die Grundsätze, die daheim selbstverständlich waren, auf andere seltsam wirkten. In den Kindergottesdiensten hatte ich gelernt, dass Gott der Schöpfer von allem war und die Welt in sieben Tagen erschaffen hatte. Meine Lehrerin sah das anders, sprach von Evolution und erzählte, dass der Mensch vom Affen abstamme. Ich war schockiert und nannte sie eine Lügnerin. Worauf sie mich des Klassenzimmers verwies und ich anschließend zum Direktor zitiert wurde.
    Auch für meine älteren Geschwister war diese Zeit sicher nicht leicht. Seit die Eltern den Glauben gefunden hatten, waren die Vorschriften streng. Kein Alkohol, kein Herumknutschen mit Gleichaltrigen, keine Zigaretten. Noch in Lausen hatte mein
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