Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
Vom Netzwerk:
schließlich im Schichtbetrieb arbeiten und bla, bla, bla. Es war ein Schock. Erst als unsere Mutter entlassen wurde, kamen wir alle wieder zusammen.
    Matthias war von Anfang an ein kränkliches Kind; er wollte nicht trinken, meine Mutter musste abpumpen, vor allem während ihrer Krebstherapie ein enormer Aufwand, weil die Milch von einer Klinik zur anderen transportiert werden musste. Zu Hause dann versuchte sie, ihn mit »Moro-Brei« aufzupäppeln, einer Mischung aus Milch, Butter, Zucker und etwas Mehl. Dazu fünf weitere Kinder im Alter von drei bis dreizehn Jahren. Vom Alkohol war sie weg, ebenso mein Vater; beide hatten lose Kontakt zu einer christlichen Gemeinde aufgenommen, die sie in ihrem Weg bestärkte und ermutigte, es noch einmal miteinander zu versuchen.
    Am 22. Juni 1979 heirateten meine Eltern zum zweiten Mal. Alles sollte nun anders werden, besser, friedlicher. Das Datum, das eigentlich ein freudiges sein sollte, ist für uns alle mit einem schrecklichen Schicksalsschlag verbunden.
    Es war der Abend nach der feierlichen Zeremonie im Saal der Adventisten-Gemeinde, meine Eltern saßen noch mit einigen Bekannten im Wohnzimmer zusammen. Ich hörte Matthias weinen, krabbelte aus dem Bett und tappte nach nebenan. Ich weiß noch, dass ich einen Schlafanzug mit blauen und gelben Figuren anhatte und in einer Art Sack steckte, mit dem ich mehr über den Boden rutschte, als dass ich lief. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, ein feiner Lichtstrahl aus dem Wohnzimmer fiel wie ein heller Pinselstrich auf sein Gitterbett. Durch die Stäbe sah ich ihn unruhig mit den Armen strampeln, er wimmerte. Vielleicht der Nucki? Ich strich ihm über die Wange, dann tastete ich nach dem Schnuller. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist ein furchtbares Geräusch, ein Gurgeln, dann eine lähmende Stille. Reglos lag Matthias in seinem Bettchen, aus Nase und Ohren lief eine dunkle Flüssigkeit, seine Augen waren weit aufgerissen.
    Ich muss gebrüllt haben wie am Spieß, meine Eltern kamen sofort ins Zimmer gestürzt und machten das Licht an. Matthias’ Augen waren rot, genau wie die Flüssigkeit, die ihm über das Gesicht lief. Ich stand starr vor dem Bett, konnte mich nicht rühren. Meine Mutter packte mich, riss mich am Arm nach oben, schüttelte mich und schrie immer wieder: »Was hast du getan! Mein Gott, was hast du getan?«
    Ich hatte gar nichts getan, hatte nur seinen Schnuller aufgehoben. Ich war drei Jahre alt und gerade trocken. Von diesem Tag an machte ich wieder ins Bett. Bis ich zwölf war, passierte mir das immer wieder, ohne dass ich es mir erklären konnte. Meine Mutter verachtete mich dafür; geredet über das, was damals geschehen war, haben wir erst zwanzig Jahre später.
    Ich erzählte einem Psychologen von einem Traum, der mich regelmäßig quälte. In diesem Traum trug ich einen Schlafanzug mit blauen und gelben Figuren. Ich konnte mich so genau an Details erinnern, dass er mich bei einer Sitzung fragte, ob ich diese Szene vielleicht irgendwann einmal erlebt habe. Ich verneinte. Am Abend rief ich meine Mutter an. Als ich ihr von diesem Traum erzählte, brach sie in Tränen aus. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sie mir da alles sagte: dass Matthias damals nicht geweint hatte, weil er seinen Schnuller verloren hatte, sondern wegen der unerträglichen Schmerzen. Dass in seinem kleinen Gehirn ein Tumor gewachsen war und er nie eine echte Chance gehabt habe. Und dass ich ihn habe sterben sehen. Kein böser Traum, sondern eine Realität, die ich einfach verdrängt hatte. Ein Muster, das sich durch viele Episoden in meinem Leben zieht.
    Nach Matthias’ Tod – er wurde nur ein Jahr alt – hielten es meine Eltern nicht länger in unserer Wohnung in der Simsonstraße aus. Für uns Kinder war der Wechsel nicht einfach. Die Älteren steckten am Anfang der Pubertät, und wir Jüngeren hingen an dem Altbau mit den hohen Wänden und den großen Fenstern, durch die man in die Bäume vor dem Haus sehen konnte. Auf dem langen Flur konnte man fangen spielen und über die Holzdielen schlittern. Und in dem neuen Kachelofen im Wohnzimmer gab es eine kleine Luke, in die Mutter manchmal ein Blech mit Äpfeln schob. In dem Zimmer, das ich mir mit Sandra teilte, hatte sie bunte Figuren an die Wand gemalt. Pumuckl und einen blauen Schlumpf. Beim Spielen hatten wir einmal festgestellt, dass sich die Farbe mit etwas Spucke und Wasser lösen ließ, und die Figuren »umgestaltet«. Hinterher gab es Tränen. Fürs
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher