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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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nichts.
    Das Zimmer, das ich mir mit meiner Schwester Sandra teile, ist unverändert. Mein Bettsofa auf der rechten Seite, am Kopfende ein Regal mit Büchern und Kassetten. An der Wand ein altes Foto von meinem Vater und knallig-bunte Poster. Depeche Mode, Michael Jackson und Roxette.
    Ich schiebe die Decke zur Seite und lasse mich aufs Bett fallen. Zu Hause. Ruhe. Vorbei.
    Vorbei? Nichts ist vorbei. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper in meinem eigenen Zimmer. Meine Gedanken kreisen, kehren zurück ins Jasmin. Die Strafe für meine »Flucht« müssen alle ausbaden! Du bist schuld, du allein, wenn er sie halb totschlägt. Und hinterher sagen wird: Wasch dir die Scheiße aus dem Gesicht. Das sagt er gern. Wenn sie dann aus dem Bad kommen, mit aufgesprungenen Lippen und blau unterlaufenen Augen, zieht er sie auf seinen Schoß und sagt: Hey, Süße, das hab ich nicht so gemeint. Du bist doch mein Liebling, ich will dich nicht verlieren, wär’ schade um dich.
    Ich muss weg hier, raus.
    Raus und wieder zurück.
    Ich habe keinen anderen Gedanken mehr als diesen. Ich kann die anderen Mädchen nicht im Stich lassen! Kugler wollte uns ja nichts Böses. Eigentlich. Eigentlich. Das Unwort des Jahrhunderts.
    Wenn wir uns danebenbenahmen, nicht an die Regeln hielten, konnte er ja gar nicht anders, er musste uns bestrafen. Wir, ganz allein wir, sind dafür verantwortlich. Alles hat Konsequenzen, da ist sich Kugler sogar mit meiner Mutter einig. Eins führt zum anderen. Ich habe Scheiße gebaut, indem ich nicht zu Ludwig in den Wagen gestiegen bin. Und jetzt drücke ich mich feige vor den Konsequenzen, indem ich mich in meinem Kinderzimmer verkrieche.
    Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, als würden die Wände immer näher rücken. Ich muss hier raus. Ich will nicht schuld daran sein, wenn einem der anderen Mädchen etwas passiert. Schon gar nicht Lea, das würde ich nicht packen.
    Wie in Trance stehe ich auf, öffne das Fenster und klettere hinaus in den Hof. Wie bescheuert bist du eigentlich?
    Denk an Lea, renn weiter!
    Ich steige über eine kleine Mauer und stolpere durch dunkle Hinterhöfe, als sei der Teufel hinter mir her.
    Das Gefühl, dass ich womöglich nie mehr hierher zurückkehren werde, macht meine Beine schwer. Ich bin in Tränen aufgelöst, als ich die Straßenbahnhaltestelle erreiche. Das ist Wahnsinn, der größte Fehler deines Lebens.
    Die Türen der Bahn schließen sich, mit einem Ruck setzt sich das gelbe Gefährt in Bewegung. In der Scheibe sehe ich mein Gesicht. Die Schminke verschmiert, Tränen und Rotz haben Spuren über meine Wangen gezogen. Ich ertrage die Blicke der anderen Fahrgäste nicht, fühle mich nackt und hilflos. Ich muss aussteigen. Zurück. Nach Hause. Noch einmal von vorn anfangen. Vor Gott sind alle Menschen gleich, er liebt uns, nimmt uns an, hatten sie das nicht immer im Gottesdienst gesagt? »Du sollst sauber und anständig leben und deine Familie achten.« Das habe auf dem Schild gestanden, im Treppenhaus des Gemeindesaals, in dem meine Eltern damals zum zweiten Mal geheiratet haben. Sauber und anständig. Das war ich nicht mehr. Und die Achtung vor meiner Familie habe ich lange schon verloren. Dabei gab es Zeiten, da bin ich glücklich gewesen. Lange her.
    Die Straßenbahn hält direkt vor dem Haus in der Merseburger Straße 115. Ein grauer, unsanierter Altbau, ein Bürgerhaus, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Die Treppe hoch in den ersten Stock knarrt bei jedem Schritt. Dann stehe ich vor der dunkel lackierten Haustür mit dem Schild »Jasmin«. Ich ziehe die Hand aus der Jackentasche und drücke mit dem Finger auf die Klingel.

Trügerisches Idyll
Ohne Zügel auf einem wilden Pferd
Vom Leben gesandt auf unklare Reisen
Von Wegweisern betrogen, stets unbelehrt
Ein entfesselter Zug auf unsichtbaren Gleisen
    Meine Mutter öffnete die Tür. Draußen standen zwei Männer in gleich aussehenden Mänteln. Wie geklont. Selbst wir Kinder wussten, wer sie waren. »Horch und Guck«. Das waren die, die manchmal Pakete vorbeibrachten, die unsere Verwandtschaft aus dem Westen geschickt hatte. Meine Eltern mussten diese seltenen Päckchen im Beisein der Herren öffnen, selbst wenn die zerrupfte Verpackung längst anzeigte, dass ein anderer bereits seine Nase hineingesteckt hatte.
    Sandra und ich waren sofort zur Treppe geeilt, als es geschellt hatte. Gemeinsam spähten wir durch das Geländer nach unten.
    Da standen sie, die beiden, wie aus dem Ei gepellt, mit verkniffenem Blick.
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