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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung
Autoren: Andrzej Sapkowski
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sollten es bald erfahren.
    Mistle war die Einzige, die überlebte. Aus dem Straßengraben, in den man sie geworfen hatte, nackt, bedeckt von blauen Flecken, Unrat, Schmutz und getrocknetem Blut, zog Asse sie, der Sohn eines Dorfschmieds, der die Nilfgaarder seit drei Tagen verfolgte, wahnsinnig vor Rachedurst für das, was die Marodeure seinem Vater, seiner Mutter und den Schwestern angetan hatten und was er mitansehen musste, im Hanffeld verborgen.
    Sie hatten sich alle eines Tages beim Lammas getroffen, beim Erntefest, in einem Dorf in Geso. Krieg und Not hatten damals das Land an der oberen Velde noch nicht übermäßig heimgesucht – die Dörfler feierten, wie es Brauch war, mit lärmenden Spielen und Tänzen den Beginn des Erntings.
    Sie brauchten sich in der ausgelassenen Menge nicht allzu lange zu suchen. Zu viel unterschied sie von ihr. Zu viel hatten sie gemein. Es verband sie eine Vorliebe für auffällige, bunte, phantastische Kleidung, für geraubtes Glitzerzeug, für schöne Pferde, für Schwerter, die sie nicht einmal beim Tanzen abgürteten. Es zeichneten sie Arroganz und Übermut aus, Selbstsicherheit, spöttische Streitsucht und Gewalttätigkeit.
    Und Verachtung.
    Sie waren Kinder der Zeit der Verachtung. Und nichts als Verachtung hatten sie für die anderen übrig. Für sie zählte nur die Kraft. Die Geschicklichkeit im Umgang mit der Waffe, die sie sich auf den Landstraßen rasch angeeignet hatten. Entschlossenheit. Ein schnelles Pferd und ein scharfes Schwert.
    Und Gefährten. Kumpel. Kameraden. Denn wer allein ist, muss umkommen – vor Hunger, durch das Schwert, einen Pfeil, einen Bauernknüppel, den Strick, im Feuer. Wer allein ist, kommt um – erstochen, erschlagen, totgetreten, geschändet, als Spielzeug von Hand zu Hand gereicht.
    Sie hatten sich beim Erntefest getroffen. Der mürrische, schwarze, hoch aufgeschossene Giselher. Der hagere, langhaarige Kayleigh mit den bösen Augen und dem zu einer widerwärtigen Grimasse verzogenen Mund. Reef, der noch immer mit Nilfgaarder Akzent sprach. Die hochgewachsene, langbeinige Mistle mit dem kurzgeschnittenen, wie Stoppeln abstehenden strohblonden Haar. Die großäugige und bunte Flamme, biegsam und fließend beim Tanz, schnell und mörderisch im Kampf, mit den schmalen Lippen und den kleinen Elfenzähnen. Der breitschultrige Asse mit dem hellen, sich kräuselnden Flaum am Kinn.
    Anführer wurde Giselher. Und sie nannten sich die Ratten. Jemand hatte sie irgendwann einmal so genannt, und ihnen hatte es gefallen.
    Sie raubten und mordeten, und ihre Grausamkeit wurde sprichwörtlich.
    Anfangs unterschätzten die Nilfgaarder Präfekten sie. Sie waren sich sicher, dass sie nach dem Beispiel anderer Banden bald den vereinten Aktionen der in Wut versetzten Bauernschaft zum Opfer fallen würden, dass sie sich gegenseitig umbringen und ausrotten würden, wenn die Menge der angesammelten Beute die Gier über die Bandensolidarität siegen lässt. Die Präfekten hatten recht, was andere Banden anging, doch sie irrten sich in Bezug auf die Ratten. Denn die Ratten, die Kinder der Verachtung, verschmähten die Beute. Sie raubten und töteten zum Vergnügen, und Pferde, Vieh, Getreide, Viehfutter, Salz, Teer und Tuch, die sie von Heerestransporten geraubt hatten, verteilten sie in den Dörfern. Hände voll Gold und Silber zahlten sie Schneidern und Handwerkern für das, was sie über alles liebten – Waffen, Kleidung und Schmuck. Die Beschenkten speisten und tränkten sie, boten ihnen Unterkunft und Versteck, und selbst bis aufs Blut gepeinigt von Nilfgaardern und Nissiren verrieten sie die Schlupfwinkel und Schleichpfade der Ratten nicht.
    Die Präfekten setzten eine hohe Belohnung aus – und anfangs fanden sich Leute, die auf das Nilfgaarder Gold aus waren. Doch nachts gingen die Häuser der Denunzianten in Flammen auf, und die aus dem Feuer Fliehenden fielen unter den aufblitzenden Klingen von gespenstischen Reitern, die im Rauche einherhuschten. Die Ratten griffen auf Rattenart an. Leise, heimtückisch, grausam. Die Ratten waren vernarrt ins Töten.
    Die Präfekten griffen zu den gegen andere Banden erprobten Mitteln – mehrfach versuchten sie, einen Verräter unter die Ratten zu bringen. Es misslang. Die Ratten akzeptierten niemanden. Die geschlossene, verbrüderte Sechsergruppe, hervorgebracht von der Zeit der Verachtung, wollte keine Fremden. Sie verschmähte sie.
    Bis zu dem Tag, an dem die geschickte Akrobatin auftauchte, das aschblonde, wortkarge
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