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Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Autoren: Peter Conrad
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wertvoller und lebendiger gewesen als hier, an einem Ort, wo der eigene Körper nicht mehr war als eine Illusion.
    Ein unerwartetes Geräusch ließ Eleanor aus ihren trüben Gedanken aufschrecken. Ein leises Wispern hatte die Stille auf dem Weg unterbrochen, ein Laut, der so schnell vorüber war, dass er kaum existiert zu haben schien. Von links war er gekommen, doch als Eleanor herumfuhr, konnte sie dort nichts Ungewöhnliches erkennen. Zu beiden Seiten des Weges wogten die grauen Halme der hohen Wiesen, die sich Hügel auf Hügel bis zum Horizont erstreckten. In der Ferne standen einige der schwarzen Bäume, deren Äste sich klagend im Wind hin und her wanden.
    „Nein. Mach es nicht!“, kicherte plötzlich eine hohe Stimme.
    Ganz sicher – diese Stimme war von links unten gekommen, aus einer Position, nur wenige Meter vor Eleanor am Wegesrand. Doch dort war nichts außer hohem Gras zu sehen.
    Dann jedoch kam plötzlich Bewegung in die Grashalme, eine Bewegung, die nicht im Einklang mit dem Wind zu erklären war. Eine kleine Gestalt  erhob sich aus der Wiese, wo sie bis eben perfekt versteckt gewesen war. Niemals hätte Eleanor sie im Vorbeigehen zu entdecken vermocht.
    Ein Junge war es, dünn, ärmlich und altertümlich gekleidet. Er trat einige Schritte voran auf die Straße und sagte ohne Eleanor dabei aus den Augen zu lassen: „Du kannst rauskommen, Jenn. Sie wird uns nichts tun. Schau sie dir doch an.“
    Einige Sekunden lang geschah nichts. Dann jedoch teilten sich die Grashalme erneut und ein kleines Mädchen betrat den Weg. Ihr Bruder war schon nicht sehr groß, doch sie war sicher noch einen Kopf kleiner als er, ebenso schmächtig, ebenso gewandet. Die beiden blickten neugierig zu Eleanor empor, das Mädchen mit einem offenen Lächeln voll Neugier, der Junge mit der gespannten Wachsamkeit gegenüber Ungewohntem im Blick. Er hielt einen Stock in der Hand und hielt sich einige Zentimeter vor seiner kleinen Begleiterin. Keine Frage – er mochte an die Ungefährlichkeit dieser fremden Begegnung glauben, doch sicherheitshalber legte er seinen Stock nicht zur Seite.
    „Ist sie kein böser Engel, Natt?“, fragte das Mädchen leise.
    Der Junge schüttelte überzeugt den Kopf.
    „Sieh sie dir doch an. Sie ist wie wir. Ein böser Engel würde leuchten.“
    Das Mädchen nickte befriedigt, doch ihre Position hinter ihrem Beschützer gab sie dennoch nicht auf.
    „Wer seid ihr?“, fragte Eleanor, die sich von ihrem ersten Schrecken über diese unerwartete Begegnung erholt hatte.
    Der Junge legte der Kopf schief.
    „Wir sind die Kinder von Bauer Tucker. Ich bin Nathaniel, das ist meine Schwester Joanne.“ Er zeigte auf seine kleine Begleiterin.
    „Was macht ihr hier?“
    „Wir wohnen hier.“ Die Antwort des Jungen klang beinahe trotzig.
    „Ihr wohnt hier?“ Eleanor deutete auf die Wiesen entlang des Weges. „An diesem Ort?“
    Der Junge nickte mit einem Gesichtsausdruck, als würde er Eleanor für etwas beschränkt halten.
    „In unserem Haus da drüben“, ergänzte er, indem er mit einem schmutzigen Daumen unbestimmt über seine Schulter wies.
    Einen kurzen Augenblick lang sagte keiner der drei ein Wort. Eleanor war noch immer überrascht, hier jemanden anzutreffen, noch dazu zwei kleine Kinder. Nathaniel und Joanne hingegen begafften den unerwarteten Neuankömmling voll unverhohlener Neugier.
    „Bist du auch von einem bösen Engel hierher geschickt worden?“, durchbrach Joannes helle Stimme schließlich die Stille. Ihr Bruder knuffte sie ungehalten in die Seite, was ihm einen empörten Aufschrei einbrachte.
    „Ein böser Engel?“, fragte Eleanor unsicher. „Werdet ihr von einem bösen Engel hier festgehalten?“
    „Natürlich“, erwiderte Nathaniel. „Wir sind hier im äußersten Kreis.“
    Eleanors Gesichtsausdruck machte ihm schnell deutlich, dass sie keines seiner Worte verstand. Entnervt verdrehte er die Augen.
    „Du bist neu hier, was?“, fragte er. „Vielleicht solltest du mitkommen. Vater Erik kann dir vielleicht weiterhelfen.“
    „Vater Erik? Meinst du einen Priester?“ Eleanor verstand die Welt nicht mehr. An was für einen merkwürdigen Ort war sie gelangt?
    „Komm einfach mit!“, wiederholte Nathaniel. Dann drehte er sich um und rannte den Weg hinab, seine Schwester grinste noch einmal zu Eleanor hinauf und folgte ihrem großen Bruder dann.
    Auch Eleanor begann zu laufen. Sie hatte keine Probleme, dem Tempo der beiden zu folgen, zumindest an diesem Ort nicht. In der Welt
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