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Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Autoren: Peter Conrad
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Asche ohne Glut. Und so merkwürdig es war – er litt mit ihr. Auch wenn er ihre Sehnsucht nach diesem Raphael nicht begreifen konnte, so wusste er doch, dass Eleanor einen zu wichtigen Teil seines Lebens ausmachte, als dass er ihr Leid hätte ignorieren können. Nichts wünschte er sich mehr, als sie noch einmal lächeln zu sehen. So wie damals, als er sie vom Jahrmarkt in Bude nach Hause gebracht hatte.
    Zum hundertsten Mal dachte er, was Raphael doch für ein Vollidiot war. Er hätte das schönste, vollkommenste und wunderbarste Mädchen in Cornwall haben können. Doch stattdessen war er offenbar auf irgendeinem merkwürdigen Ego-Trip unterwegs und zog es vor, aus der Öffentlichkeit und dem Leben dieses Mädchens zu verschwinden. Unglaublich. Geradezu dämlich.
    Michael stöhnte. Er schlug sich den rechten Arm vor die Augen und wälzte sich ein wenig vom Sonnenlicht weg. Heute war wieder einer dieser Tage, an denen er am liebsten in völliger Dunkelheit vor sich hingebrütet hätte. Solche Tage mochten nichts bringen, doch zumindest waren sie nicht so verlogen wie jene, an denen er sich zwing en musste das Haus zu verlassen. Menschen anlächeln, Smalltalk zu treiben und den üblichen Verpflichtungen des Lebens nachkommen, wenn die Gedanken sich doch unaufhörlich um Eleanor drehten, waren Dinge, die ihm im Augenblick vollkommen unmöglich waren. In den letzten Tagen hatte er sein Leben hassen gelernt.
    Er kratzte sich am Kopf und wälzte sich dann schwerfällig aus dem Bett. Mit einer fahrigen Bewegung griff er nach seiner Hose und zog sie an. Ihm war bewusst, dass er zurzeit allein im Haus war, denn Bess war am vergangenen Abend zu einer Schulkameradin eingeladen gewesen und hatte angekündigt, dort übernachten zu wollen. Ihre Mutter musste schon seit einigen Stunden in Stratton Hall sein, denn sie hatte heute Frühdienst. Nun, zumindest würde ihn diese Situation den halben Tag davor bewahren, mit den beiden zusammentreffen zu müssen. Ihre Mutter war ihm in den letzten Wochen ohnehin keine Hilfe gewesen. Und Bess… nun ja, Bess war eben seine Schwester. Noch dazu Eleanors Freundin. Sie machte sich ebenso große Sorgen wie er selbst. Doch abgesehen davon hätte er mit ihr nie über seine Ängste reden können. Nein, seine kleine Schwester war ihm kein rettender Anker. Niemand, mit dem er sich über seine Gefühle austauschen konnte. Zu sehr fühlte er sich als großer Bruder, der ihr gegenüber nie eine Schwäche zugegeben hätte. Und Eleanor war seine Schwäche…
    Mehrmals hatten die zwei über die Geschehnisse in Stratton Hall gesprochen. Am Anfang nur mit einem gewissen Unverständnis und Unbehagen. Immerhin war zunächst nur Raphael verschwunden. Für Michael kein Verlust. Bess war vorausschauender gewesen. Sie hatte vom ersten Augenblick an klar erkannt, dass Raphaels Verschwinden unabsehbare Auswirkungen auf Eleanor haben würde. Michael hingegen hatte zu diesem Zeitpunkt bestenfalls kopfschüttelnd über Raphaels merkwürdiges Verhalten gegrinst.
    „Was für ein Idiot!“, hatte er gesagt. „Er überlässt mir das Feld. Spätestens jetzt weiß ich, dass der Typ `nen Hau weg hat. Ich hab zwar keine Ahnung, warum er einfach verschwindet, aber dieser Fehler wird ihm das Genick brechen. So viel ist sicher.“
    Heute, mehrere Wochen später, wusste er es besser. Eleanor hatte sich so sehr in sich selbst zurückgezogen, dass sie Michael nicht einmal mehr wahrnahm. Wann immer er sie besuchen gekommen war, hatte sie teilnahmslos vor sich hingestarrt, hatte weder auf seine Anwesenheit, noch auf irgendetwas anderes in ihrer Umwelt reagiert. Er hatte versucht sie zum Lachen zu bringen, hatte sie zu irgendeiner Reaktion animieren wollen. Schließlich hatte er begonnen, mit ihr wie mit einem Komapatienten zu sprechen. Er wusste nicht einmal, ob sie ihn überhaupt hörte, doch wenn sie es tat, wollte er ihr zumindest das Gefühl vermitteln, dass er sich um sie bemühte und sie nicht allein in jenem finsteren Loch zurücklassen mochte, in das sie durch Raphaels Verschwinden gefallen war. Es hatte drei ganze Wochen gebraucht, bis er erkannt hatte, dass seine Mühen zum Scheitern verurteilt waren. Eleanor würde nicht aufwachen. Sie würde ihn nicht wahrnehmen und ganz sicher würde sie ihm nicht näherkommen. An jenem Tag, als Michael das erkannte, war er selbst in ein Loch gefallen. Die Erkenntnis, dass Eleanor für ihn verloren war, hatte ihn wie einen Blitz getroffen und ihn wie mit einem mächtigen Tritt in
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